Neubeuern 1948 - 1949 Teil III
Es fällt
mir schwer, den richtigen Dreh zu finden. Meine Melonenreste werden
matschig. Es ist wohl an der Zeit, mehr von den Lehrern und dem
Unterricht zu berichten, und da fängt schon der Schlamassel an. Hab’ ich
doch ein ausgeprägt schlechtes Gedächtnis für Namen. Und das "Lernen =
Schullernen" habe ich fast vollständig versäumt oder vergessen.
Hier will
ich wahrheitsgetreu einflechten, dass meine ganze Schulbildung, soweit
vorhanden, eine Katastrophe war. In den ersten 16 Jahren meines Lebens,
bis zu meinem betrüblichen Volksschulabschluss, habe ich in 12
verschiedenen Schulen, sagen wir mal, "eingesessen". Die Nachkriegszeit
brachte das so mit sich und war also nicht nur durch mein "Ungenügen"
verursacht. Ich verließ die Schule mit ganz wenigen Kenntnissen und
einer saumäßigen Handschrift, die mir heute noch schwer fällt, zu
entziffern. Dieser Computer ist der gute Freund, der diese bedauerliche
Tatsache verschleiert. Deswegen war ich zum Beispiel nur bereit
"Workshop Director" in der Australian Opera in Sydney zu werden, als man
mir eine Sekretärin zugestand. Das garantierte mir eine wunderbare Zeit
31 Jahre lang. Doch das werden wir erst später erfahren. Nur soviel
noch: Alles, oder fast alles was ich weiß und bin, habe ich auf freier
Wildbahn gelernt und erfahren, und das Meiste, ohne mir dessen bewusst
zu werden.
Nun zurück
nach Neubeuern. Die Lehrer. Alle können ganz unmöglich Nazis gewesen
sein, denn die durften ja gar nicht mehr existieren. Das Oberhaupt der
Schule war Dr. Emmert oder Emmerich. Vielleicht 53 Jahre alt, nicht
besonders schlank, verheiratet mit einer kleineren, schmalen Frau (die
ich für die Gerissenste von uns allen hielt, denn sie wusste immer
sofort, wo der Hase im Pfeffer lag, wer was, und wie, ausgefressen
hatte, wer schuldig war und warum). Eine Xanthippe!
Zwei
Töchter hatten sie, glaube ich mich zu erinnern. Dr. Emmerich erklärte
mir während einer privaten Abendsitzung das Liebesleben der Bienen und
der Schmetterlinge. Auch erfuhr ich von ihm, was Masturbation ist und
dass man es am besten nur mit seiner Erlaubnis betreibe. Ich war aber ein
"Spätentwickler" und Haare hatte ich nur auf dem Kopf. Dr. Emmerich war
erstaunt und besorgt, der Zeit vorausgegriffen zu haben. Das hatte er
denn wohl auch. Den Bienen und Schmetterlingen hat das in meinen Augen
keinen Abbruch gemacht.
Weiterhin
war da Dr. Schölzel, der Mathelehrer. Vielleicht unterrichtete er auch
noch andere Fächer. Ich glaube, er war auch Soldat gewesen. Sehr schlank
und mager, mit einem Gesicht, das man leicht von der Seite ansehen
musste, um einen vollen Eindruck zu bekommen. Direkt von vorne war es so
schmal wie der Bug eines Schnellboots. Er war sicher ein guter Mann, der
viel durchgemacht hatte.
Hier
möchte ich eine Beobachtung einschieben, die mir erst viel später
bewusst wurde. Nicht nur in der Erinnerung, sondern vielmehr durch alte
Filme und Wochenschauen nach dem und auch schon wahrend des Krieges: Es
gab keine dicken oder fetten Menschen in Deutschland. Aus dem Grunde
erklärte es sich auch, dass die deutsche Bevölkerung, sofern noch am
Leben, ausgesprochen gut gesund erschien. Das gibt einem in der heutigen
Zeit zu denken …
Dann war
da auch Dr. Klöter. Er war groß, breit und stark. Sicher mit "hohem
Blutdruck" und sehr kurzer Lunte. Er konnte ganz schnell rot anlaufen
und dann auch recht bald explodieren. Oft zu seinem Schaden. Er kam aus
dem Krieg zurück und hatte, wie alle, viel gelitten und viel zu
verkraften. Das war für uns Schüler sicher nicht ganz leicht zu
verstehen und zu vergeben. Wir fürchteten Ihn. Ich weiß nicht mehr, was
er unterrichtete.
Und dann
war da unser Sportlehrer. Er war beliebt. Seinen Namen habe ich völlig
vergessen. Ihn aber nicht. Ich nenne ihn einfach mal "Hermann" weil er
uns wie "Hermann der Cherusker" erschien, dem, der in Kassel ja sein
großes Denkmal hat, weil er im Teutoburger Wald so wundervoll gemordet
hatte. Ouintilius Varus nimmt ihm das heute noch sehr übel. Aber,
erinnern wir uns, Hermann nahm auch ein unrühmliches Ende. Wurde er doch
von seien Familienmitgliedern mit bloßen Händen zerrissen, nur weil er
sie beherrschen wollte.
Unser
Hermann war vielleicht 30 Jahre alt, wohl gebaut, gut aussehend, stark,
freundlich, voller Ideen. Er war es, der uns in der Wolfsschlucht das
Abseilen beibrachte. Und noch mehr, zum Beispiel das Raufklettern mit
nur einem Sicherheitsseil um die Brust. Da flatterten einem die Hosen.
Und wenn man da so in der Wand hing und nicht vorwärts oder zurück
wusste, dann bekam man die "Nähmaschine" in den Beinen. Das heißt, das
ganze Bein krampfte wie eine Nähmaschine, ratterte auf und nieder ohne
jede Kontrolle. Eine ganz schreckliche, Angst machende Erfahrung.
Das machte
also unser Held mit uns. Und anderes.
Hermann,
nahm uns auf Zeltfahrten mit, auch zum Chiemsee zum Beispiel. Wir
flochten uns aus Weiden "Tennisschläger" um daran "Grüne Heringe" zu
binden und diese über dem Lagerfeuer zu braten
– wunderbar, aber
stinkend. Geländespiele, schwimmen, fischen, zeichnen, raufen. Alles was
Jungens so zu machen liebten.
Hermann
hatte einen großen, begehrenswerten, grünen Doppelschlafsack. Wir alle
bewunderten ihn. Da ward es denn Mode, dass, wer immer der Hervorragendste den ganzen über Tag gewesen war, als Preis die Nacht in
"der Grünen Hölle" –
denn so nannten wir diesen Schlafsack
– zubringen durfte.
Unter der Aufsicht unseres geliebten Herrmanns.
Ich war
niemals der Beste und so niemals in der Lage, diesen Preis zu gewinnen,
was mir in jenen Tagen ehrlichen Kummer bereitete.
Ich habe
jedoch Grund, diese Tatsache nicht zu bedauern. Hörte ich doch viel
später, dass Hermann für eine mir unbekannte Zeit auf Staatspension zu
leben hatte. Die "Grüne Hölle" hatte wohl zu viel Feuer gespuckt. Mir
tut das auch heute noch leid für ihn, denn er war ein prima Kerl, dem
das Leben, wie auch vielen anderen, die falschen Karten in die Tasche
geschummelt hatte.
Da war ein
Lehrfach, das in gewisser Weise mein Leben beeinflusst hat. Und das war
der Religionsunterricht.
Ich war im
richtigen Alter dafür, wie es schien, und so kriegte ich ihn auch. Es
war der "Kleine Katechismus" von hinten und vorn. Fast alles daraus hat sich
längst verloren. Ich war als Evangele geboren, so also nicht von mir
selber auserkoren. Hatte wirklich keine Ahnung von all dem, doch das
Lernen war nicht unbequem, denn Prüfungen machte man keine. Ich blieb
ungeschoren und ziemlich alleine.
Begeistert
vom Ganzen war ich nie, doch hatte man doch eine gewisse "Ehrfurcht"
für die alte Ballade.
Im
Bayrischen gab es viel mehr Katholiken und deren Kirchen waren so sehr
viel schöner. Sie hatten auch viel mehr Jungen von "Tagelöhnern" in allen
Altersklassen. Ich besuchte ihre Kirche und konnte nicht fassen, wie
profan und unverschämt sich alle benahmen. Schmutzige Witze wurden
gerissen, selbst beim Knien auf diesen Betkissen. Alles war irgendwie
gemein. Ich selber war eigentlich sehr ergriffen, denn die ganze
Liturgie hat mich irgendwie begeistert.
Alles war
neu und ungewohnt. Hinsetzen, aufstehen, niederknien, das Kreuz schlagen
und Gebete murmeln, singen, und sich ganz heilig fühlen. Das ist mir
damals so vorgekommen, doch wurde es bald darauf recht verschwommen.
Ich war ja
leider evangelisch und das ohne Herz. Die kommende Konfirmation
bereitete mir Schmerz. So schrieb ich nach Hause an meine Mutter, und
bat sie, mich von der Konfirmation zu entbinden. Fragen gingen hin und
her, wie es genau anging, weiß ich nicht mehr. Doch letztendlich ward
ich entbunden und nicht als sehr christlich empfunden.
Den wahren
Grund für meine negative Entscheidung will ich heute ehrlich gestehen.
Es war nicht die Religion, die ich ja kaum begriff in all ihren Irrungen
und Wirrungen. Es war, dass ich zu arm war und keinen Anzug hatte, wie
all die anderen reicheren Buben. Das konnte ich nicht verkraften, und so
gab ich den Glauben leichtgläubig auf.
Hier will
ich anhängen, dass ich 20 Jahre später in Kiel vor dem Landgericht
erschien, um meinen Austritt aus der mir angeborenen Evangelischen
Kirche zu beantragen. Das muss man nämlich in Deutschland. Man muss vor
Gericht. Ohne das geht es nicht, denn der Staat kassiert doch auch die
Kirchensteuer, und die lässt man ja doch wohl nicht so einfach
weglaufen. Oh nein. Das tut man nicht. So schaute denn der Richter mir
in die Augen und fragte mit großem Ernst, ob ich denn auch wirklich
wüsste, was ich da tue. Ich versicherte es ihm in vollkommener Ruhe. Da
sprach der Richter "Es sei getan". Doch die Kirchensteuer müsse ich noch
weiter zahlen, einfach für den Fall, dass ich bereue und wieder in den
Arm der Kirche wolle. Daher tue man das Rechte und vollende die
"Göttliche Kündigungsfrist." Da sieht man, wie menschlich das Göttliche
ist.
Ich hab
mir das auch sehr zu Herzen genommen, und bin seitdem in die Kirchen nur
wegen ihrer baulichen Schönheit gegangen.
Das ist es
für heute. Ich habe genug. Ehrlich war ich. Ganz ohne christlichen
Betrug.
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