Lebensberichte und Familienchroniken

Gottfried F.

Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten

21.02.2009

 

 

Neubeuern 1948 - 1949 Teil III

Es fällt mir schwer, den richtigen Dreh zu finden. Meine Melonenreste werden matschig. Es ist wohl an der Zeit, mehr von den Lehrern und dem Unterricht zu berichten, und da fängt schon der Schlamassel an. Hab’ ich doch ein ausgeprägt schlechtes Gedächtnis für Namen. Und das "Lernen = Schullernen" habe ich fast vollständig versäumt oder vergessen.

Hier will ich wahrheitsgetreu einflechten, dass meine ganze Schulbildung, soweit vorhanden, eine Katastrophe war. In den ersten 16 Jahren meines Lebens, bis zu meinem betrüblichen Volksschulabschluss, habe ich in 12 verschiedenen Schulen, sagen wir mal, "eingesessen". Die Nachkriegszeit brachte das so mit sich und war also nicht nur durch mein "Ungenügen" verursacht. Ich verließ die Schule mit ganz wenigen Kenntnissen und einer saumäßigen Handschrift, die mir heute noch schwer fällt, zu entziffern. Dieser Computer ist der gute Freund, der diese bedauerliche Tatsache verschleiert. Deswegen war ich zum Beispiel nur bereit "Workshop Director" in der Australian Opera in Sydney zu werden, als man mir eine Sekretärin zugestand. Das garantierte mir eine wunderbare Zeit 31 Jahre lang. Doch das werden wir erst später erfahren. Nur soviel noch: Alles, oder fast alles was ich weiß und bin, habe ich auf freier Wildbahn gelernt und erfahren, und das Meiste, ohne mir dessen bewusst zu werden.

Nun zurück nach Neubeuern. Die Lehrer. Alle können ganz unmöglich Nazis gewesen sein, denn die durften ja gar nicht mehr existieren. Das Oberhaupt der Schule war Dr. Emmert oder Emmerich. Vielleicht 53 Jahre alt, nicht besonders schlank, verheiratet mit einer kleineren, schmalen Frau (die ich für die Gerissenste von uns allen hielt, denn sie wusste immer sofort, wo der Hase im Pfeffer lag, wer was, und wie, ausgefressen hatte, wer schuldig war und warum). Eine Xanthippe!

Zwei Töchter hatten sie, glaube ich mich zu erinnern. Dr. Emmerich erklärte mir während einer privaten Abendsitzung das Liebesleben der Bienen und der Schmetterlinge. Auch erfuhr ich von ihm, was Masturbation ist und dass man es am besten nur mit seiner Erlaubnis betreibe. Ich war aber ein "Spätentwickler" und Haare hatte ich nur auf dem Kopf. Dr. Emmerich war erstaunt und besorgt, der Zeit vorausgegriffen zu haben. Das hatte er denn wohl auch. Den Bienen und Schmetterlingen hat das in meinen Augen keinen Abbruch gemacht.

Weiterhin war da Dr. Schölzel, der Mathelehrer. Vielleicht unterrichtete er auch noch andere Fächer. Ich glaube, er war auch Soldat gewesen. Sehr schlank und mager, mit einem Gesicht, das man leicht von der Seite ansehen musste, um einen vollen Eindruck zu bekommen. Direkt von vorne war es so schmal wie der Bug eines Schnellboots. Er war sicher ein guter Mann, der viel durchgemacht hatte.

Hier möchte ich eine Beobachtung einschieben, die mir erst viel später bewusst wurde. Nicht nur in der Erinnerung, sondern vielmehr durch alte Filme und Wochenschauen nach dem und auch schon wahrend des Krieges: Es gab keine dicken oder fetten Menschen in Deutschland. Aus dem Grunde erklärte es sich auch, dass die deutsche Bevölkerung, sofern noch am Leben, ausgesprochen gut gesund erschien. Das gibt einem in der heutigen Zeit zu denken …

Dann war da auch Dr. Klöter. Er war groß, breit und stark. Sicher mit "hohem Blutdruck" und sehr kurzer Lunte. Er konnte ganz schnell rot anlaufen und dann auch recht bald explodieren. Oft zu seinem Schaden. Er kam aus dem Krieg zurück und hatte, wie alle, viel gelitten und viel zu verkraften. Das war für uns Schüler sicher nicht ganz leicht zu verstehen und zu vergeben. Wir fürchteten Ihn. Ich weiß nicht mehr, was er unterrichtete.

Und dann war da unser Sportlehrer. Er war beliebt. Seinen Namen habe ich völlig vergessen. Ihn aber nicht. Ich nenne ihn einfach mal "Hermann" weil er uns wie "Hermann der Cherusker" erschien, dem, der in Kassel ja sein großes Denkmal hat, weil er im Teutoburger Wald so wundervoll gemordet hatte. Ouintilius Varus nimmt ihm das heute noch sehr übel. Aber, erinnern wir uns, Hermann nahm auch ein unrühmliches Ende. Wurde er doch von seien Familienmitgliedern mit bloßen Händen zerrissen, nur weil er sie beherrschen wollte.

Unser Hermann war vielleicht 30 Jahre alt, wohl gebaut, gut aussehend, stark, freundlich, voller Ideen. Er war es, der uns in der Wolfsschlucht das Abseilen beibrachte. Und noch mehr, zum Beispiel das Raufklettern mit nur einem Sicherheitsseil um die Brust. Da flatterten einem die Hosen. Und wenn man da so in der Wand hing und nicht vorwärts oder zurück wusste, dann bekam man die "Nähmaschine" in den Beinen. Das heißt, das ganze Bein krampfte wie eine Nähmaschine, ratterte auf und nieder ohne jede Kontrolle. Eine ganz schreckliche, Angst machende Erfahrung.

Das machte also unser Held mit uns. Und anderes.

Hermann, nahm uns auf Zeltfahrten mit, auch zum Chiemsee zum Beispiel. Wir flochten uns aus Weiden "Tennisschläger" um daran "Grüne Heringe" zu binden und diese über dem Lagerfeuer zu braten wunderbar, aber stinkend. Geländespiele, schwimmen, fischen, zeichnen, raufen. Alles was Jungens so zu machen liebten.

Hermann hatte einen großen, begehrenswerten, grünen Doppelschlafsack. Wir alle bewunderten ihn. Da ward es denn Mode, dass, wer immer der Hervorragendste den ganzen über Tag gewesen war, als Preis die Nacht in "der Grünen Hölle" denn so nannten wir diesen Schlafsack zubringen durfte. Unter der Aufsicht unseres geliebten Herrmanns. 

Ich war niemals der Beste und so niemals in der Lage, diesen Preis zu gewinnen, was mir in jenen Tagen ehrlichen Kummer bereitete.

Ich habe jedoch Grund, diese Tatsache nicht zu bedauern. Hörte ich doch viel später, dass Hermann für eine mir unbekannte Zeit auf Staatspension zu leben hatte. Die "Grüne Hölle" hatte wohl zu viel Feuer gespuckt. Mir tut das auch heute noch leid für ihn, denn er war ein prima Kerl, dem das Leben, wie auch vielen anderen, die falschen Karten in die Tasche geschummelt hatte.

Da war ein Lehrfach, das in gewisser Weise mein Leben beeinflusst hat. Und das war der Religionsunterricht.

Ich war im richtigen Alter dafür, wie es schien, und so kriegte ich ihn auch. Es war der "Kleine Katechismus" von hinten und vorn. Fast alles daraus hat sich längst verloren. Ich war als Evangele geboren, so also nicht von mir selber auserkoren. Hatte wirklich keine Ahnung von all dem, doch das Lernen war nicht unbequem, denn Prüfungen machte man keine. Ich blieb ungeschoren und ziemlich alleine.

Begeistert vom Ganzen war ich nie, doch hatte man doch eine gewisse "Ehrfurcht" für die alte Ballade.

Im Bayrischen gab es viel mehr Katholiken und deren Kirchen waren so sehr viel schöner. Sie hatten auch viel mehr Jungen von "Tagelöhnern" in allen Altersklassen. Ich besuchte ihre Kirche und konnte nicht fassen, wie profan und unverschämt sich alle benahmen. Schmutzige Witze wurden gerissen, selbst beim Knien auf diesen Betkissen. Alles war irgendwie gemein. Ich selber war eigentlich sehr ergriffen, denn die ganze Liturgie hat mich irgendwie begeistert.

Alles war neu und ungewohnt. Hinsetzen, aufstehen, niederknien, das Kreuz schlagen und Gebete murmeln, singen, und sich ganz heilig fühlen. Das ist mir damals so vorgekommen, doch wurde es bald darauf recht verschwommen.

Ich war ja leider evangelisch und das ohne Herz. Die kommende Konfirmation bereitete mir Schmerz. So schrieb ich nach Hause an meine Mutter, und bat sie, mich von der Konfirmation zu entbinden. Fragen gingen hin und her, wie es genau anging, weiß ich nicht mehr. Doch letztendlich ward ich entbunden und nicht als sehr christlich empfunden.

Den wahren Grund für meine negative Entscheidung will ich heute ehrlich gestehen. Es war nicht die Religion, die ich ja kaum begriff in all ihren Irrungen und Wirrungen. Es war, dass ich zu arm war und keinen Anzug hatte, wie all die anderen reicheren Buben. Das konnte ich nicht verkraften, und so gab ich den Glauben leichtgläubig auf.

Hier will ich anhängen, dass ich 20 Jahre später in Kiel vor dem Landgericht erschien, um meinen Austritt aus der mir angeborenen Evangelischen Kirche zu beantragen. Das muss man nämlich in Deutschland. Man muss vor Gericht. Ohne das geht es nicht, denn der Staat kassiert doch auch die Kirchensteuer, und die lässt man ja doch wohl nicht so einfach weglaufen. Oh nein. Das tut man nicht. So schaute denn der Richter mir in die Augen und fragte mit großem Ernst, ob ich denn auch wirklich wüsste, was ich da tue. Ich versicherte es ihm in vollkommener Ruhe. Da sprach der Richter "Es sei getan". Doch die Kirchensteuer müsse ich noch weiter zahlen, einfach für den Fall, dass ich bereue und wieder in den Arm der Kirche wolle. Daher tue man das Rechte und vollende die "Göttliche Kündigungsfrist." Da sieht man, wie menschlich das Göttliche ist.

Ich hab mir das auch sehr zu Herzen genommen, und bin seitdem in die Kirchen nur wegen ihrer baulichen Schönheit gegangen.

Das ist es für heute. Ich habe genug. Ehrlich war ich. Ganz ohne christlichen Betrug.