Neubeuern 1948 - 1949 Teil IV
Ich werde
nicht sehr viel mehr von Neubeuern berichten. Es war ja nur ein Jahr,
dass ich dort war, sehr wichtig in meinem Leben, doch von wenig
Interesse für andere.
So will
ich denn nur ein paar Brocken aus dem Grab der Vergangenheit aufklauben.
Da war die
große überdachte Terrasse in der Mitte des Schlosses, vor der sich das
weite Tal mit den riesigen, umgrenzenden Bergen im Hintergrund
ausbreitete. Eine große Freilichtbühne für alle, die auf der Terrasse
Platz fanden. Das nutzten wir dann auch oft aus, denn in diesem Tal
fanden häufig gewaltige Gewitter statt. Recht ungeheuer und oft zum
Fürchten, doch immer begeisternd.
So war
auch dieses bewusste Gewitter von gewaltiger Schönheit im Gange, gerade
als wir alle im Kaminsaal zusammen waren. Vielleicht 40 Jungen und die
Lehrer. Wir stürzten raus zum Gewitterschauen. Es war warm und es
regnete, doch nicht zu stark. Durch die schwarzen Wolken zuckten die
besten Blitze die man je sehen konnte. In dem Tal zuckten sie immer
kreuz und quer von Berg zu Berg und auf und nieder. Beinahe zum
Fürchten. Dennoch standen wir auf der Terrasse ganz an die Rückwand
gepresst und waren natürlich überwältigt von diesem Naturschauspiel.
Dann
geschah etwas fast unvorstellbares, was nur selten jemand zu Gesicht
bekommt. Doch wir sahen es, mit Angst und Entsetzen. Eine goldene,
strahlende Kugel entstand vor unseren Augen, die in sich selber rollte
und still in unsere Richtung angeschwebt kam. "Kugelblitz!" rief
jemand. " Steht ganz still und pustet nach der Kugel."
Da standen
wir also in Furcht und Staunen und pusteten, dass die Kugel uns nicht
überkugele. Geisterhaft schwebte sie da entlang mit Feuerglut im
Inneren, deren Kreisen man erkennen konnte. Langsam tanzte sie vor
unseren Nasen. Wir pusteten recht vorsichtig, doch mit Erfolg. Endlich
entschwebte sie hoch und aus unserm Gesichtsfeld, was wir eigentlich
nicht sehr bedauerten, denn das Ganze war doch sehr gefährlich, wie uns
dann im hinterher auch erklärt wurde. Keiner hatte eine Ahnung von
Kugelblitzen, und selten hat man sie erlebt. Außer uns natürlich, und
das in einem Schloss auf einem Hügel, wo alles doch ganz wunderbar war,
und, wie ich zu glauben Grund habe, auch heute noch ist, wenn auch ganz
anders nun.
Es hat
sich doch alles sehr verändert, wie man auf der Website ersehen kann.
Keine marmornen Pferdekrippen mehr, kein Melde- und Brennnesselsammeln,
doch neue Gebäude und ziemlicher Luxus hat diese alten Spuren
ausgelöscht. Man kann sehen, wie sehr das Internat vorangekommen ist.
Irgendwie fühle ich, dass ich mich nicht sehr gut einbürgern würde. Zum Teil,
weil ich wohl mit 74 Jahren ein klein wenig zu
– "reif" bin?
Ich werde
also Neubeuern verlassen. Ein Jahr und drei Monate habe ich dort
verbracht und verbrochen, und es war schön! 14 ½ Jahre alt war ich dann.
Es war der 16. Juli 1949, dass ich mein Bündel schnüren musste, denn das
bayrische Stipendium wurde nicht erneuert. In jenen Jahren waren wir ja
immer noch arm wie die Kirchenmaus. So durfte ich mit der Erlaubnis von
Irma Ella die Heimreise nach Oldenburg per Anhalter unternehmen. Das war
in diesen Jahren ganz gewöhnlich und möglich. Erstaunlicher Weise. Heute
würde man sich so etwas erst überlegen und dann lieber nicht tun. |
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Ich hatte
also meinen "Affen" gepackt, mit Armeedecke und Zeltplane waidgerecht
ausgelegt. Mit einem kleinen "Stein der Angst" im Magen machte ich mich
auf die Fahrt.
Es sind
ungefähr 800 km bis nach Oldenburg, glaube ich. Eine solche Entfernung
kann man per Anhalter nicht in weniger als zwei Tagen bewältigen, auch
wenn man Glück haben sollte. Dazu kommt, dass da ja noch ein recht
begrenzter Autoverkehr herrschte. Meistens rasten da nur Amerikaner in
ihren "Fliegenden Ärschen", wie wir sie nannten, herum. Die hatten ja
auch diese übertriebenen, ausladenden Angeberautos, so dass der gegebene
Name ganz zutreffend war.
So will
ich denn auch gleich berichten, dass auch ich das Glück hatte, von so
einem "Fliegenden Arsch" aufgegabelt zu werden. Ich war so froh und
beinahe stolz, in einem solchem Wagen zu fahren. Natürlich saß ein
amerikanischer Soldat am Steuer, in Uniform. Die hatte große
Brusttaschen. In der linken lebte der kleinste Hund, den ich je gesehen
habe. Nur Kopf und Vorderpfoten schauten heraus. Ich glaube, er muss mit
Whisky aufgezogen worden sein, denn sonst wäre er nicht so klein
geblieben.
Er war dem
Soldaten furchtbar lieb. Ich hatte Glück, dass der Soldat ein lieber
Mensch war, denn bald geriet ich in ganz furchtbares Ungemach. Die
weiche Federung des Wagens brachte es fertig, dass mir all das Wenige,
das ich im Magen hatte, mir durch den Kopf ging, unter Zurücklassung
des "Steins der Angst".
Ich kotzte
durch meine Finger, versuchend, es aufzuhalten, doch vergebens. Ich
klemmte meine Beine zusammen, um alles aufzufangen, doch das klappte
auch nur sehr begrenzt.
Es war
ganz schrecklich und ich dachte schon, wie mein Soldat mich
notschlachten würde. Doch es kam ganz anders. Er war ein guter Mann
– ich nehme an, er
ist jetzt wohl schon im Himmel, denn dies geschah vor 60 Jahren. Er
stoppte. Ich sah mich schon rausgeschmissen. Aber nein. Er hieß mich
aussteigen, kam herum, reinigte alles so gut es ging mit Wasser, das er
hatte, gab mir zu trinken, doch verbat seinem Hündchen, bei der
Reinigung zu helfen, wozu dies gute Tierchen so gerne bereit gewesen
wäre. Dann durfte ich wieder einsteigen, und auf ging's in die Ferne.
Vergessen habe ich das dem guten Manne nie.
Die erste
Nacht brach herein. Ich war vielleicht in der Nähe von Heidelberg, als
es dunkel wurde und es mir ein wenig mulmig wurde. Wusste ich doch, dass
ich nicht mehr viel weiter kommen konnte an diesem Tag, wollte aber
nicht gesehen werden, wenn ich mich in die Büsche schlagen würde, um ein
Nachtversteck zu finden. Meine erste Nacht im Leben ganz allein und auf
weiter Flur. Es war aufregend und auch ein wenig Furcht einflößend. So
wanderte ich die Strasse entlang auf der Suche nach einer guten Nische,
die mich für die Nacht verschlucken würde.
Als ich
etwas Ansprechendes gefunden hatte, versicherte ich mich, dass auch
keine Menschenseele in der Nähe war. Einfach nichts, weit und breit.
Dann sprang ich in die Büsche. Nicht weit von der Autobahn, einfach nur
ins Dunkle. Schnell die Decke und Plane entfalten und darunter
schlüpfen, war das Kommando der Stunde, und schnell einschlafen, aus
Sicherheitsgründen.–
Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Wie kann man Angst haben,
wenn man schläft?!
Am
nächsten Tag kam ich wohl bis in die Delmenhorster Gegend, und das auch
wieder während der Dämmerung. Mitten in der Stadt abgesetzt. Schöne
Scheiße, denn da war nichts, wo ich mich verkriechen konnte. Häuser und
Strassen und sonst nichts. Also zuckelte ich dahin, auf der Suche nach
einer Deckung für die Nacht. Es wurde schon recht dunkel als ich an eine
Straßengabelung kam, die einen Inselkeil von Grünanlage hatte,
vielleicht 40 Meter lang und vielleicht bis zu 15 Meter weit. Da waren
einige Pflanzen, die etwa 35 cm hoch waren und dicht zusammen standen.
Ich bin mir heute sicher, dass es sich da um Grünkohl handelte. Man
pflanzte in jenen Tagen doch Gemüse, wo immer man konnte. Dort legte ich
mich so flach wie möglich nieder. Mäuse kamen vorbei, um mich zu
untersuchen. Es war nicht sehr bequem und sicher fühlte ich mich auch
nicht, doch zog ich Hosen und Jacke, und sogar die Strümpfe aus, da ich
ja wusste, dass man in Kleidern nicht gut schläft. Gegen Morgen fiel ich
dann sogar in recht tiefen Schlaf, um im Morgengrauen mit Schrecken von
zahllosen Radfahrern zu beiden Seiten meiner kleinen Insel geweckt zu
werden, die sich auf dem Weg zur Arbeit befanden.
Das war
ganz schrecklich, sich da so aufzurappeln und anzuziehen, indem man
versucht sich hauchdünn über dem harten Boden zu breiten. Na ja. Am Ende
musste ich dann doch aufspringen und das verdammende Kopfschütteln der
Vorbeifahrenden über meine jungen Schultern ergehen lassen. Ich habe in
späteren Zeiten bessere Nächte verbracht, doch habe ich jene, nicht wie
die Besseren, nie vergessen. Es bereichert einen doch.
An diesem
Tag kam ich nun wirklich in Oldenburg und damit "zu Hause" an. Dort
sollte ich denn für einige Jahre bleiben, und wenn mir da noch etwas
Schreibenswertes einfällt, will ich solches tun. Für heute ist es genug.
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"Affe" = Tornister, umgangssprachlich
auch Affe genannt, ist eine vorwiegend im militärischen Bereich
angesiedelte Rucksackform, bei der eine Fell- oder Stoffbespannung über
einen rechteckigen Holz- oder Kunststoffrahmen genäht wird.
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