Lebensberichte und Familienchroniken

Gottfried F.

Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten

02.03.2009

 

 

Neubeuern 1948 - 1949 Teil IV

Ich werde nicht sehr viel mehr von Neubeuern berichten. Es war ja nur ein Jahr, dass ich dort war, sehr wichtig in meinem Leben, doch von wenig Interesse für andere.

So will ich denn nur ein paar Brocken aus dem Grab der Vergangenheit aufklauben.

Da war die große überdachte Terrasse in der Mitte des Schlosses, vor der sich das weite Tal mit den riesigen, umgrenzenden Bergen im Hintergrund ausbreitete. Eine große Freilichtbühne für alle, die auf der Terrasse Platz fanden. Das nutzten wir dann auch oft aus, denn in diesem Tal fanden häufig gewaltige Gewitter statt. Recht ungeheuer und oft zum Fürchten, doch immer begeisternd.

So war auch dieses bewusste Gewitter von gewaltiger Schönheit im Gange, gerade als wir alle im Kaminsaal zusammen waren. Vielleicht 40 Jungen und die Lehrer. Wir stürzten raus zum Gewitterschauen. Es war warm und es regnete, doch nicht zu stark. Durch die schwarzen Wolken zuckten die besten Blitze die man je sehen konnte. In dem Tal zuckten sie immer kreuz und quer von Berg zu Berg und auf und nieder. Beinahe zum Fürchten. Dennoch standen wir auf der Terrasse ganz an die Rückwand gepresst und waren natürlich überwältigt von diesem Naturschauspiel.

Dann geschah etwas fast unvorstellbares, was nur selten jemand zu Gesicht bekommt. Doch wir sahen es, mit Angst und Entsetzen. Eine goldene, strahlende Kugel entstand vor unseren Augen, die in sich selber rollte und still in unsere Richtung angeschwebt kam. "Kugelblitz!" rief jemand. " Steht ganz still und pustet nach der Kugel."

Da standen wir also in Furcht und Staunen und pusteten, dass die Kugel uns nicht überkugele. Geisterhaft schwebte sie da entlang mit Feuerglut im Inneren, deren Kreisen man erkennen konnte. Langsam tanzte sie vor unseren Nasen. Wir pusteten recht vorsichtig, doch mit Erfolg. Endlich entschwebte sie hoch und aus unserm Gesichtsfeld, was wir eigentlich nicht sehr bedauerten, denn das Ganze war doch sehr gefährlich, wie uns dann im hinterher auch erklärt wurde. Keiner hatte eine Ahnung von Kugelblitzen, und selten hat man sie erlebt. Außer uns natürlich, und das in einem Schloss auf einem Hügel, wo alles doch ganz wunderbar war, und, wie ich zu glauben Grund habe, auch heute noch ist, wenn auch ganz anders nun.

Es hat sich doch alles sehr verändert, wie man auf der Website ersehen kann. Keine marmornen Pferdekrippen mehr, kein Melde- und Brennnesselsammeln, doch neue Gebäude und ziemlicher Luxus hat diese alten Spuren ausgelöscht. Man kann sehen, wie sehr das Internat vorangekommen ist. Irgendwie fühle ich, dass ich mich nicht sehr gut einbürgern würde. Zum Teil, weil ich wohl mit 74 Jahren ein klein wenig zu "reif" bin?

Ich werde also Neubeuern verlassen. Ein Jahr und drei Monate habe ich dort verbracht und verbrochen, und es war schön! 14 ½ Jahre alt war ich dann. Es war der 16. Juli 1949, dass ich mein Bündel schnüren musste, denn das bayrische Stipendium wurde nicht erneuert. In jenen Jahren waren wir ja immer noch arm wie die Kirchenmaus. So durfte ich mit der Erlaubnis von Irma Ella die Heimreise nach Oldenburg per Anhalter unternehmen. Das war in diesen Jahren ganz gewöhnlich und möglich. Erstaunlicher Weise. Heute würde man sich so etwas erst überlegen und dann lieber nicht tun.

 

Ich hatte also meinen "Affen" gepackt, mit Armeedecke und Zeltplane waidgerecht ausgelegt. Mit einem kleinen "Stein der Angst" im Magen machte ich mich auf die Fahrt.

Es sind ungefähr 800 km bis nach Oldenburg, glaube ich. Eine solche Entfernung kann man per Anhalter nicht in weniger als zwei Tagen bewältigen, auch wenn man Glück haben sollte. Dazu kommt, dass da ja noch ein recht begrenzter Autoverkehr herrschte. Meistens rasten da nur Amerikaner in ihren "Fliegenden Ärschen", wie wir sie nannten, herum. Die hatten ja auch diese übertriebenen, ausladenden Angeberautos, so dass der gegebene Name ganz zutreffend war.

So will ich denn auch gleich berichten, dass auch ich das Glück hatte, von so einem "Fliegenden Arsch" aufgegabelt zu werden. Ich war so froh und beinahe stolz, in einem solchem Wagen zu fahren. Natürlich saß ein amerikanischer Soldat am Steuer, in Uniform. Die hatte große Brusttaschen. In der linken lebte der kleinste Hund, den ich je gesehen habe. Nur Kopf und Vorderpfoten schauten heraus. Ich glaube, er muss mit Whisky aufgezogen worden sein, denn sonst wäre er nicht so klein geblieben.

Er war dem Soldaten furchtbar lieb. Ich hatte Glück, dass der Soldat ein lieber Mensch war, denn bald geriet ich in ganz furchtbares Ungemach. Die weiche Federung des Wagens brachte es fertig, dass mir all das Wenige, das ich im Magen hatte, mir durch den Kopf ging, unter Zurücklassung des "Steins der Angst".

Ich kotzte durch meine Finger, versuchend, es aufzuhalten, doch vergebens. Ich klemmte meine Beine zusammen, um alles aufzufangen, doch das klappte auch nur sehr begrenzt.

Es war ganz schrecklich und ich dachte schon, wie mein Soldat mich notschlachten würde. Doch es kam ganz anders. Er war ein guter Mann ich nehme an, er ist jetzt wohl schon im Himmel, denn dies geschah vor 60 Jahren. Er stoppte. Ich sah mich schon rausgeschmissen. Aber nein. Er hieß mich aussteigen, kam herum, reinigte alles so gut es ging mit Wasser, das er hatte, gab mir zu trinken, doch verbat seinem Hündchen, bei der Reinigung zu helfen, wozu dies gute Tierchen so gerne bereit gewesen wäre. Dann durfte ich wieder einsteigen, und auf ging's in die Ferne. Vergessen habe ich das dem guten Manne nie.

Die erste Nacht brach herein. Ich war vielleicht in der Nähe von Heidelberg, als es dunkel wurde und es mir ein wenig mulmig wurde. Wusste ich doch, dass ich nicht mehr viel weiter kommen konnte an diesem Tag, wollte aber nicht gesehen werden, wenn ich mich in die Büsche schlagen würde, um ein Nachtversteck zu finden. Meine erste Nacht im Leben ganz allein und auf weiter Flur. Es war aufregend und auch ein wenig Furcht einflößend. So wanderte ich die Strasse entlang auf der Suche nach einer guten Nische, die mich für die Nacht verschlucken würde.

Als ich etwas Ansprechendes gefunden hatte, versicherte ich mich, dass auch keine Menschenseele in der Nähe war. Einfach nichts, weit und breit. Dann sprang ich in die Büsche. Nicht weit von der Autobahn, einfach nur ins Dunkle. Schnell die Decke und Plane entfalten und darunter schlüpfen, war das Kommando der Stunde, und schnell einschlafen, aus Sicherheitsgründen. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Wie kann man Angst haben, wenn man schläft?!

Am nächsten Tag kam ich wohl bis in die Delmenhorster Gegend, und das auch wieder während der Dämmerung. Mitten in der Stadt abgesetzt. Schöne Scheiße, denn da war nichts, wo ich mich verkriechen konnte. Häuser und Strassen und sonst nichts. Also zuckelte ich dahin, auf der Suche nach einer Deckung für die Nacht. Es wurde schon recht dunkel als ich an eine Straßengabelung kam, die einen Inselkeil von Grünanlage hatte, vielleicht 40 Meter lang und vielleicht bis zu 15 Meter weit. Da waren einige Pflanzen, die etwa 35 cm hoch waren und dicht zusammen standen. Ich bin mir heute sicher, dass es sich da um Grünkohl handelte. Man pflanzte in jenen Tagen doch Gemüse, wo immer man konnte. Dort legte ich mich so flach wie möglich nieder. Mäuse kamen vorbei, um mich zu untersuchen. Es war nicht sehr bequem und sicher fühlte ich mich auch nicht, doch zog ich Hosen und Jacke, und sogar die Strümpfe aus, da ich ja wusste, dass man in Kleidern nicht gut schläft. Gegen Morgen fiel ich dann sogar in recht tiefen Schlaf, um im Morgengrauen mit Schrecken von zahllosen Radfahrern zu beiden Seiten meiner kleinen Insel geweckt zu werden, die sich auf dem Weg zur Arbeit befanden.

Das war ganz schrecklich, sich da so aufzurappeln und anzuziehen, indem man versucht sich hauchdünn über dem harten Boden zu breiten. Na ja. Am Ende musste ich dann doch aufspringen und das verdammende Kopfschütteln der Vorbeifahrenden über meine jungen Schultern ergehen lassen. Ich habe in späteren Zeiten bessere Nächte verbracht, doch habe ich jene, nicht wie die Besseren, nie vergessen. Es bereichert einen doch.

An diesem Tag kam ich nun wirklich in Oldenburg und damit "zu Hause" an. Dort sollte ich denn für einige Jahre bleiben, und wenn mir da noch etwas Schreibenswertes einfällt, will ich solches tun. Für heute ist es genug.
 

"Affe" = Tornister, umgangssprachlich auch Affe genannt, ist eine vorwiegend im militärischen Bereich angesiedelte Rucksackform, bei der eine Fell- oder Stoffbespannung über einen rechteckigen Holz- oder Kunststoffrahmen genäht wird.
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