Nana Glen, Australien
Bei Ammers in Oldenburg
Also,
Leute, nach all den guten Gedanken und Wünschen für dieses schon
"angebrauchte Jahr", will ich erklären, warum ich so lange nicht schrieb
und schreiben konnte.
Schuld
daran hat unsere augenblickliche Regierung. Sie versprach und gab jedem
Rentner einen Bonus von 1.400,00 Dollar zu Weihnachten, mit der
Aufforderung, diese so schnell wie möglich auszugeben, um die
Weltwirtschaft und unsere zu retten. Das war der Ankerpunkt meines
langen Schweigens, denn …
Ich will
mich nun also am Riemen reißen und die düsteren Pfade von Berlin nach
Oldenburg i/O, der Hauptstadt meiner mittleren Jugendzeit, nachzuwandern
versuchen.
Wie schon
angedeutet, verblassten meine Erinnerungen von Berlin gegen Ende meines
letzten Berichts, doch hat Hans ja noch eine ganze Menge dazu
beigefügt mit Ereignissen, die mir völlig abhanden gekommen waren. Wie
ihr alle, so bin auch ich ihm dankbar dafür!
Auf einmal
sehe ich uns alle in Oldenburg!
– Wie kam es nur
dazu?
Da war
also Onkel Horst Rudolf, der sich unserer Familie sehr angenommen
hat. Erstmal hatte er uns im Berliner Lager entdeckt, aufgefunden. Das
war sicher nicht leicht in jenen Tagen. Zu Hilfe kam der Beschluss der
Besatzungsmächte –
Amerikaner, Russen, Franzosen, Engländer
–, dass kein Bürger
seinen derzeitigen Standort wechseln durfte ohne einen überzeugenden
Grund und den Nachweis einer anerkannten neuen Adresse.
– Klingt das nicht
beinahe wie Kafkas Beamtendeutsch?!
Nun, Onkel
Horst Rudolf fand heraus wo wir waren, und statt uns da versauern zu lassen,
setzte er alle Hebel in Bewegung
– davon hatte er wohl
einige – um unsere
ganz Bagage dem Lagerleben zu entreißen und zu sich, das heißt, nach
Oldenburg holen, der Stadt, in die es ihn selber nach dem Krieg
verschlagen und in der er schon seine eigenen Wurzeln gebettet hatte.
Horst
hatte dort für eine ganze Weile bei Frau Ammer in ihrer ziemlich
großen Wohnung zur Miete gewohnt. Da waren auch ihre beiden
heiratsfähigen Töchter, die das Heiraten denn ja auch wohl recht gerne
getan hätten. Nicht viele Männer gab es in der Zeit, die frei waren und
den Mut dazu hatten, solches zu tun. Auch der gute Onkel war dagegen und
zog aus.
Doch war
ihm erlaubt, seiner buckligen Verwandtschaft (uns) für eine begrenzte
Zeit Unterkunft und somit eine eigene Adresse zu verschaffen.
Ich frage
mich, ob ihm das ohne die liebevollen / liebestollen Töchter jemals
gelungen wäre. Auch denen gebührt die Ehre, wenn auch aus zweifelhaften
Gründen, uns "gerettet" zu haben.
Vergesst
nicht, wir könnten noch heute im Lager hausen, wenn es nicht schon lange
abgerissen wäre …
Dank also,
Frau Ammer, ihren Töchtern, doch ganz besonders Onkel Horst Rudolf, dem es
sicher erging wie Odysseus, der sich an des Schiffes Mast fesseln
musste, um der Sirene und ihrem Gesang zu entkommen ... Denn gesagt muss
es sein, dass Klara, die eine der Schönen, auf den Erfolg ihrer Stimme
baute und Gesangsstunden nahm.
Nie werde
ich das Getriller der immer gleichen Töne vergessen und den für mich
recht unbegreiflichen Text: "Auf der hellen Linnnnhinnken, tausend
schwebende Stern-ne-ne, sehe ich dort blin-nin-ken, tun mir freundlich
win-nin-ken …!" Das war es so ungefähr, und wurde über und über
wiederholt. Was denn ja auch nötig ist, um überall richtig
durchzudringen. Auch wenn man nicht die Stimme dazu hat.
Es war
jedoch eine große und gute Tat, die die aufopfernde Familie Ammer
uns darbrachte.
Bedenkt!
Eine nicht kleine bürgerliche Wohnung mit dunklen, polierten Möbeln.
Glasvitrinen, Geschirr, Sauberkeit, Förmlichkeit, aus tiefem Frieden auf
einmal von einem noch kürzlich verlausten Menschenhaufen überrannt zu
werden. Nämlich von einer Großmutter, einer Mutter, 5 Jungen und 2
Mädchen gemischten Alters, der Jüngste gerade ein Jahr alt mit vollen
Windeln und hungrigem Geschrei, hart zu kontrollieren.
– KEINE LEICHTE
SACHE!!!
Auch nicht
für den Menschenhaufen, der ja sehr dankbar ist
– aber das auch sehr
sein musste! Keiner liebt 'Müssen' zu müssen!
Wie lange
wir dort bleiben durften / mussten, ist mir heute nicht mehr bewusst.
Außer der singenden Zirze ist da bei mir nicht mehr viel hängen
geblieben. Es muss wohl nur eine kurze, doch wichtige Zeit gewesen sein.
Ich nehme an, dass Onkel Horst Rudolf es vollbrachte, dass wir bald in die
Kaserne in Kreyenbrück eingeziehen konnten.
Davon das
nächste Mal.
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Auszug aus "Aus meinem Leben"
von Horst Rudolf Müller
... Der nächste Gang zum Wohnungsamt.
Drei Anschriften gab man mir ... Zur nächsten Anschrift: Teichstraße.
Es machte niemand auf. Dann Schritte auf der Treppe: zwei junge Damen –
wobei die Bezeichnung "Damen" irgendwie unpassend ist. Jedenfalls
zeigten sie mir das erst am Vormittag vom
Wohnungsamt beschlagnahmte Zimmer. Ein großer Raum, die "gute Stube" der
Witwe Ammer und ihrer drei so etwa 20 bis 28 Jahre alten Töchter.
Der Hinweis "kein Bett" konnte mich nicht schrecken, ich sagte ihnen, daß ich seit etlichen Jahren nicht mehr im Bett geschlafen hätte,
Holzfußboden wäre sehr gut.
Ich nahm das Zimmer.
Und war somit Oldenburger Bürger ...
So wohnte ich also bei der Witwe
Ammer mit ihren drei heiratsfähigen Töchtern, einer sehr energischen
Witwe, die in den erster Nächten, wie ich später hörte, ein Beil mit ins
Bett nahm zum Schutze vor dem Menschen aus dem "Oosten", vor dem sie
Angst hatte, obwohl sie eigentlich sehen mußte, daß ich halbverhungerter
Mensch froh war, wenn ich mich überhaupt auf den Beinen hielt.
Allmählich holte ich dank Rotem Kreuz meine gesamte noch lebende Familie
nach Oldenburg, und die Witwe Ammer und ihre Töchter waren unser
ständiges Gesprächsthema. Sie stammten aus der Gegend von Wardenburg,
bekamen von ihrer Verwandtschaft noch einiges an Lebensmitteln
zugesteckt, und ich profitierte auch davon. Solange, bis sie merkte, daß
ich absolut keine ihrer drei Töchter heiraten wollte. Da warf sie mir
die Lebensmittelkarten vor die Füße, aber da zog ich auch bald aus.
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