Nana Glen, Australien
Das Wunder von Sandkrug
Das anstehende Weihnachtsfest zwingt mich,
einen großen Sprung in die Zukunft der Vergangenheit zu tun. Es wird
das letzte Mal sein, dass ich von vergangenen Weihnachten reden werde,
und darum sage ich alles jetzt und auf einmal. Wieder ist es der
Tannenbaum, der an allem schuld ist.
Ohne genauere Einführung, landen wir
mitten im Winter ein oder zwei oder sogar drei Jahre nach Berlin,
das heißt vermutlich 1948 oder 1949 – so genau weiß ich das Jahr nicht –
in "S a n d k r u g". Es muss Mitte Dezember gewesen sein.
Sandkrug, nun, trägt auch heute noch
seinen Namen zu Recht. Es muss wohl mal eine Dünenlandschaft gewesen
sein. Ziemlich flach. Beinahe überhaupt ganz flach und ganz aus Sand.
Feiner weißgelblicher Sand und sehr trocken. Kein Regenwasser hält sich
dort lange auf. Kiefern und Tannen wachsen und duften dort. Schmale,
sandige Wege durchkreuzen die Wälder; ganz wunderbar, über diese auf dem
Fahrrad zu ziehen. Keine Angst beschleicht einen dort. Es ist Licht
selbst zwischen den Bäumen und nur freundliche, altnordische Götter sind
dort zuhause. Man kann Ihre Nähe fühlen. Schwingt euch doch mal aufs Rad
und tut euch die Schönheit zu Gute!!!
Es waren unserer Geschwister vier, die
älteren drei Jungen und ich als Jüngster. Vielleicht 14 Jahre oder so.
Und wir hatten Fahrräder. Jeder seines. In Oldenburg wird man mit einem
Fahrrad geboren – oder man ist eine Missgeburt. Das Land verlangt es
einfach. Ja, die Räder waren unser Stolz. Zusammengebastelt aus vielen
gefundenen, nicht geklauten Teilen, wo immer wir sie erschachern,
eintauschen und erbetteln konnten. Manchmal fanden wir sie tatsächlich
auch "auf dem Gemüll".
Heinz, der Großkotzige, hatte seines ganz
silbern angestrichen. Auch hatte er eine sehr laute "Laufklingel". Wenn
er an einer mit dem Lenker verbundenen Strippe zog, zog einem der Lärm
die Schuhe aus.
Ich mag wohl sagen, dass die Räder von
damals nicht viel mit den heutigen gemein hatten. Wie schwere Ackergäule
rollten sie. Schwerfällig – und oft anstrengend. Wir wurden alle sehr
fit durch ihren Gebrauch.
Dies ist eigentlich ein Liebesgesang der
Erinnerung. Wir liebten unsere Stahlrosse. Hatten Zügel an der
Lenkstange. Ritten sie freihändig und hätten sie am liebsten mit ins
Bett genommen. Unsere Räder hatten Seelen. Klar?
Nun aber husch zurück nach Sandkrug.
Dort fand nämlich das weihnachtliche Vorspiel am besagten, ungenauen
Datum statt.
Vier Jungen, mutige, liebenswerte
Geschwister alle, vier Stahlrosse von unterschiedlicher Farbe und
Qualität, eine gut versteckte kleine Säge und ein großer leerer
Sack, den mitzunehmen die "Berliner Erfahrung" sie gelehrt hatte,
befanden sich auf einem Raubzug zwecks Entführung eines frischen
Weihnachtsbaumes aus dem Wald.
Angekommen auf diesem göttlichen Fleckchen
Erde wurde auf einer günstigen Wegkreuzung Kriegsrat gehalten. Der Plan
war simpel und klar wie Kloßbrühe. Ich, Hanneputchen, als der Jüngste,
wurde auf der Kreuzung deponiert, um Ausschau nach allen Richtungen zu
halten und im Falle von Gefahr, ein lustiges Lied vor mich hin zu
pfeifen und so die Baumräuber zu warnen. Um mein Dortsein zu
rechtfertigen, stellte ich mein Rad auf den Sattel und hantierte so an
der Kette herum als ob sie abgesprungen wäre. Raffiniert, nicht wahr?
Und völlig undurchschaubar und unschuldig.
Nun, die drei Brüder verschwanden
beutegierig im Gebüsch. Keine große Angst war auf unseren Gesichtern zu
lesen. Unsere Pulse schlugen schnell, doch unsere Hosen waren trocken
und unbefleckt!
Unschuldig arbeitete ich an meinem
Stahlross. Meine Blicke schweiften über das Firmament. Alles war ruhig
und nichts zu sehen, außer dass da zwei Radfahrer angefahren kamen.
Unverdächtige Bürger auf Urlaub oder so. Als sie beinahe auf meiner
Höhe waren, stimmte ich eine lustige Pfeifmelodie an. Einfach so. Aus
Freude am Leben, dem schönen Wetter und am Rande auch, um die Brüder ein
wenig zu warnen.
Das, nun, gefiel den beiden Radlern
überhaupt nicht. Im Nu sprangen sie von ihren Rädern, umzingelten mich,
griffen meinem Arm und drehten mir diesen auf den Rücken und boten mir
ganz ohne Freundlichkeit an, mir die Schnauze einzuschlagen, wenn ich
noch einen Pieps von mir gäbe. Das gefiel mir nun also beinahe gar
nicht!
Diese beiden Banditen stellten sich recht
drohend als Ober- und Unterförster vor und heraus. Ich wurde in die
Mitte genommen, und wir marschierten genau zu der Stelle, wo die Brüder
schon eine schöne Tanne gefunden und den Raum darunter gesäubert zum
Fellen vorbereitet hatten.
Es stellte sich heraus, dass die Förster
schon auf einem Hochstand auf Leutchen unseres Kalibers gewartet hatten,
und das seit Tagen und täglich. Des öfteren mit Erfolg.
Zum Glück war die Tanne noch unverletzt.
Doch mussten wir mit ihnen zum Forsthaus gehen, wo wir verbucht werden
sollten, um der Bestrafung unterzogen zu werden.
Na ja. Wir waren ja alle so blitzsaubere
unschuldige, arme Flüchtlingskinder, auch noch aus kinderreicher
Familie, voller Charme und Reue, mit zerdrückten Tränen.
Jedenfalls fand der Oberförster Gefallen
an uns, was mich auch nicht überraschte. Weil wir ja noch keinen
Flurschaden ausgeführt hatten, wurde der Strafvollzug gestrichen. Und da
wir nun keinen Baum hatten und so viele gute Kinder waren, auch arm
und bedauernswert, so erweichte des Försters Herz. Er half uns, seinen
eigenen Weihnachtsbaum in den Sack zu laden, aufs Rad zu binden und uns
einen Begleitschein zu schreiben, der uns sicheres Geleit nach Hause
garantierte.
Wir kamen Heim mit Triumph, Freude und
Dankbarkeit. Ich glaube mich zu erinnern, dass wir dem Förster noch
schriftlich unseren liebevollen Dank übermittelten. Jedenfalls
hoffe ich, dass wir es getan haben.
Dies ist nun aber meine letzte
Weihnachtsgeschichte. Sie greift meiner "Reise" weit voraus, passt aber
gerade in die Zeit. Wie es so weit kam, werdet ihr ein anderes Mal
und im Laufe der Zeit erfahren.
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Sandkrug
... gibt es etliche im Internet, bei
Memel in Ostpreußen, in Brandenburg und eben südöstlich von
Oldenburg. Nur
finde ich nichts, keine Texte, keine Bilder, die Gottfrieds Beschreibungen der Sandkruger
Landschaft widerspiegeln.
Dabei weiß ich aus eigener
Erinnerung aus der ersten Hälfte der 60-Jahre, dass es dort so war, wie
Gottfried es beschreibt. Wir haben dort als
Jugendliche Camping gemacht - bei dem mir aufgrund nicht allzu klugem
Umgang mit Streichholz und Spirituskocher letzterer ins Gesicht sprang -
und später mit einer Jugendgruppe um den See herum Geländespiele mit Nachtwachen etc. veranstaltet.
Sandkrug heute: der Wald ist noch da,
aber die Ferien- und Wochenendhäuser sind ihm immer mehr auf den Pelz
gerückt, nagen an seinen Rändern ...
MueGlo
Miele Fahrrad von 1946
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