Lebensberichte und Familienchroniken

Gottfried F.

Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten

15.12.2008

 

 

Nana Glen, Australien

Das Wunder von Sandkrug

Das anstehende Weihnachtsfest zwingt mich, einen großen Sprung in die Zukunft der Vergangenheit zu tun. Es wird das letzte Mal sein, dass ich von vergangenen Weihnachten reden werde, und darum sage ich alles jetzt und auf einmal. Wieder ist es der Tannenbaum, der an allem schuld ist.

Ohne genauere Einführung, landen wir mitten im Winter ein oder zwei oder sogar drei Jahre nach Berlin, das heißt vermutlich 1948 oder 1949 – so genau weiß ich das Jahr nicht – in "S a n d k r u g". Es muss Mitte Dezember gewesen sein.

Sandkrug, nun, trägt auch heute noch seinen Namen zu Recht. Es muss wohl mal eine Dünenlandschaft gewesen sein. Ziemlich flach. Beinahe überhaupt ganz flach und ganz aus Sand. Feiner weißgelblicher Sand und sehr trocken. Kein Regenwasser hält sich dort lange auf. Kiefern und Tannen wachsen und duften dort. Schmale, sandige Wege durchkreuzen die Wälder; ganz wunderbar, über diese auf dem Fahrrad zu ziehen. Keine Angst beschleicht einen dort. Es ist Licht selbst zwischen den Bäumen und nur freundliche, altnordische Götter sind dort zuhause. Man kann Ihre Nähe fühlen. Schwingt euch doch mal aufs Rad und tut euch die Schönheit zu Gute!!!

Es waren unserer Geschwister vier, die älteren drei Jungen und ich als Jüngster. Vielleicht 14 Jahre oder so. Und wir hatten Fahrräder. Jeder seines. In Oldenburg wird man mit einem Fahrrad geboren – oder man ist eine Missgeburt. Das Land verlangt es einfach. Ja, die Räder waren unser Stolz. Zusammengebastelt aus vielen gefundenen, nicht geklauten Teilen, wo immer wir sie erschachern, eintauschen und erbetteln konnten. Manchmal fanden wir sie tatsächlich auch "auf dem Gemüll".

Heinz, der Großkotzige, hatte seines ganz silbern angestrichen. Auch hatte er eine sehr laute "Laufklingel". Wenn er an einer mit dem Lenker verbundenen Strippe zog, zog einem der Lärm die Schuhe aus.

Ich mag wohl sagen, dass die Räder von damals nicht viel mit den heutigen gemein hatten. Wie schwere Ackergäule rollten sie. Schwerfällig  – und oft anstrengend. Wir wurden alle sehr fit durch ihren Gebrauch.

Dies ist eigentlich ein Liebesgesang der Erinnerung. Wir liebten unsere Stahlrosse. Hatten Zügel an der Lenkstange. Ritten sie freihändig und hätten sie am liebsten mit ins Bett genommen. Unsere Räder hatten Seelen. Klar?

Nun aber husch zurück nach Sandkrug. Dort fand nämlich das weihnachtliche Vorspiel am besagten, ungenauen Datum statt.

Vier Jungen, mutige, liebenswerte Geschwister alle, vier Stahlrosse von unterschiedlicher Farbe und Qualität, eine gut versteckte kleine Säge und ein großer leerer Sack, den mitzunehmen die "Berliner Erfahrung" sie gelehrt hatte, befanden sich auf einem Raubzug zwecks Entführung eines frischen Weihnachtsbaumes aus dem Wald.

Angekommen auf diesem göttlichen Fleckchen Erde wurde auf einer günstigen Wegkreuzung Kriegsrat gehalten. Der Plan war simpel und klar wie Kloßbrühe. Ich, Hanneputchen, als der Jüngste, wurde auf der Kreuzung deponiert, um Ausschau nach allen Richtungen zu halten und im Falle von Gefahr, ein lustiges Lied vor mich hin zu pfeifen und so die Baumräuber zu warnen. Um mein Dortsein zu rechtfertigen, stellte ich mein Rad auf den Sattel und hantierte so an der Kette herum als ob sie abgesprungen wäre. Raffiniert, nicht wahr? Und völlig undurchschaubar und unschuldig.

Nun, die drei Brüder verschwanden beutegierig im Gebüsch. Keine große Angst war auf unseren Gesichtern zu lesen. Unsere Pulse schlugen schnell, doch unsere Hosen waren trocken und unbefleckt!

Unschuldig arbeitete ich an meinem Stahlross. Meine Blicke schweiften über das Firmament. Alles war ruhig und nichts zu sehen, außer dass da zwei Radfahrer angefahren kamen. Unverdächtige Bürger auf Urlaub oder so. Als sie beinahe auf meiner Höhe waren, stimmte ich eine lustige Pfeifmelodie an. Einfach so. Aus Freude am Leben, dem schönen Wetter und am Rande auch, um die Brüder ein wenig zu warnen.

Das, nun, gefiel den beiden Radlern überhaupt nicht. Im Nu sprangen sie von ihren Rädern, umzingelten mich, griffen meinem Arm und drehten mir diesen auf den Rücken und boten mir ganz ohne Freundlichkeit an, mir die Schnauze einzuschlagen, wenn ich noch einen Pieps von mir gäbe. Das gefiel mir nun also beinahe gar nicht!

Diese beiden Banditen stellten sich recht drohend als Ober- und Unterförster vor und heraus. Ich wurde in die Mitte genommen, und wir marschierten genau zu der Stelle, wo die Brüder schon eine schöne Tanne gefunden und den Raum darunter gesäubert zum Fellen vorbereitet hatten.

Es stellte sich heraus, dass die Förster schon auf einem Hochstand auf Leutchen unseres Kalibers gewartet hatten, und das seit Tagen und täglich. Des öfteren mit Erfolg.

Zum Glück war die Tanne noch unverletzt. Doch mussten wir mit ihnen zum Forsthaus gehen, wo wir verbucht werden sollten, um der Bestrafung unterzogen zu werden.

 Na ja. Wir waren ja alle so blitzsaubere unschuldige, arme Flüchtlingskinder, auch noch aus kinderreicher Familie, voller Charme und Reue, mit zerdrückten Tränen.

Jedenfalls fand der Oberförster Gefallen an uns, was mich auch nicht überraschte. Weil wir ja noch keinen Flurschaden ausgeführt hatten, wurde der Strafvollzug gestrichen. Und da wir  nun keinen Baum hatten und so viele gute Kinder waren, auch arm und  bedauernswert, so erweichte des Försters Herz. Er half uns, seinen eigenen Weihnachtsbaum in den Sack zu laden, aufs Rad zu binden und uns einen Begleitschein zu schreiben, der uns sicheres Geleit nach Hause garantierte.

Wir kamen Heim mit Triumph, Freude und Dankbarkeit. Ich glaube mich zu erinnern, dass wir dem Förster noch schriftlich unseren liebevollen Dank übermittelten. Jedenfalls hoffe ich, dass wir es getan haben.

Dies ist nun aber meine letzte Weihnachtsgeschichte. Sie greift meiner "Reise" weit voraus, passt aber gerade in die Zeit. Wie es so weit kam, werdet ihr ein anderes Mal und im Laufe der Zeit erfahren.
 

 

Sandkrug

... gibt es etliche im Internet, bei Memel in Ostpreußen, in Brandenburg und eben südöstlich von Oldenburg.

Nur finde ich nichts, keine Texte, keine Bilder, die Gottfrieds Beschreibungen der Sandkruger Landschaft widerspiegeln.

Dabei weiß ich aus eigener Erinnerung aus der ersten Hälfte der 60-Jahre, dass es dort so war, wie Gottfried es beschreibt. Wir haben dort als Jugendliche Camping gemacht - bei dem mir aufgrund nicht allzu klugem Umgang mit Streichholz und Spirituskocher letzterer ins Gesicht sprang - und später mit einer Jugendgruppe um den See herum Geländespiele mit Nachtwachen etc. veranstaltet.

Sandkrug heute: der Wald ist noch da, aber die Ferien- und Wochenendhäuser sind ihm immer mehr auf den Pelz gerückt, nagen an seinen Rändern ...

MueGlo

 

 

 

Miele Fahrrad von 1946