Lebensberichte und Familienchroniken

Gottfried F.

Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten

14.12.2008

 

 

Nana Glen, Australien

Berlin-Lichtenrade - Weihnachten 1945

Es wird ja wohl Weihnachten, ob wir es wollen oder nicht. Ich würde sagen "lieber nicht!", denn es ist nicht mehr das, was es mal vor langen Jahren erschien.

Na ja, wie es kracht so bullert’s! Was immer das wohl heißt.

Es ist spät in der Nacht, und das ist schön.

Und, ja, wir sind noch immer im Lager in Berlin-Lichtenrade. Am Ende des Jahres 1945. Winter, der Kanonenofen bullert, und Weihnachten versucht, aufzuwachen. Was ist denn da so schön? So wichtig? So unvermeidlich nötig an Weihnachten? Jedenfalls in Deutschland??? Ach, ihr wisst es ja doch schon!! Nein, nein! Nicht die Gans! Und der Karpfen steht doch erst Ostern an!

Ach, Kinder! Zurück zur Natur!! Der BAUM natürlich!! Der Tannenbaum! Das tief verankerte Heidentum! Die Wünschelrute des Zaubergottes!! Oh ja! Ohne den geht es nicht.

Und so fühlten wir auch damals im Lager. In der Baracke. Ein Baum musste sprossen!! So ward es beschlossen!!

Die Bujas das sind wohl Heinz und Hans gewesen, denn Ernst war ja im Krankenhaus waren auserwählt, sich auf den Weg in die Weihnachtszeit zu machen. Nicht den Stern und besagten Sohn, aber einen Tannenbaum zu finden, und das im Nachkriegsberlin und in der Mitte der Nacht. Denn Weihnachten ist ja doch eine nächtliche Angelegenheit.

Sie verschwanden also in der Dunkelheit mit einem Strohsack und irgendeinem Schneidewerkzeug. Und wirklich!!! Sie kamen mit einem Baum im Strohsack zurück!!

Einem wunderschönen! Vielleicht zwei Meter hoch! Eine Tanne. Eine blaue Edeltanne. Groß war die Freude und groß war die Angst! Denn die Tanne war der Stolz eines Berliner Vorgartens. Geliebt, und nun vermisst von den Bewohnern des Hauses, dass zu dem Vorgarten gehörte.

Der Baum verschwand erstmal unter einem der Betten, wo er den erwarteten Sturm überdauern sollte.

Dieser folgte auf dem Fuße. Die eigentlichen Eigentümer dieser edlen Tanne lebten nicht zu fern von unserer Bleibe, glaube ich. Natürlich waren wir armen Flüchtlinge die ersten auf der Liste der Beschuldigten. Zufälligerweise gerechtfertigt. Nun, Leute kamen. Beschwerden kamen. Beschuldigungen kamen. Unser Name war "Hase". Wir lebten im Walde und wussten von Nichts.

Es war wohl noch einige Zeit bis zum Fest, so dass sich der Rummel austoben konnte, ohne die Übeltäter zu entdecken. Und dann kam der "Heilige Abend". Eine wunderschöne blaue Edeltanne stand in Baracke 4. Wir beanspruchten den oberen Teil des Baumes zum Schmücken, mit Strohsternen und selbstgebastelten Dingen. Von mir war da vielleicht eine eigenhändig kunstgestopfte Socke zur Schau gestellt (only kidding). Aber nein, die Krone des Baumes war sehr geschmackvoll und schön. 

Die untere und viel größere Hälfte war der polnischen Familie überlassen, und die war wirklich etwas Anderes. Überladen mit Watte und einem kitschigen Santa Klaus mit Rentieren und Schlitten und allen möglichen auch geklauten  Herrlichkeiten. "Hab’ ich gefunden auf Gemüll!" war eine sich wiederholende Erklärung des Polen für was immer er anschleppte.

Nun, es war ein sicherlich zweigeteilter Baum, wenigsten im Geschmack. Der Lagerleiter besuchte uns. Er mochte unseren Clan. Er war sehr überrascht von der Schönheit unseres Baumes und freute sich, dass wir ihn hatten. Er konnte ein Schmunzeln nicht verbergen, und auf unseren Gesichtern strahlte die frisch gewaschene Unschuld. Irma Ella hat uns auch überhaupt nicht ins Gebet genommen. Denn es war doch Weihnachten! Das Fest der Liebe.

Mit diesem bemerkenswerten Fest verdunkeln sich meine Erinnerungen an das Lager und an Berlin. Erst in Oldenburg werden sie wieder ans Licht krauchen. So schließe ich denn heute, mit guten Wünschen an alle und die Welt zum Weihnachtsfest und das Jahr 2009.

19.12.2008

Hans

Berlin-Lichtenrade 1945

Gestern sprach ich mit Gottfried, nachdem ich seine "Dichtung und Wahrheit " gelesen hatte. Er erlaubte mir einige Korrekturen und Ergänzungen.

Also, Wir haben nicht in irgendeinem Vorgarten eine Edeltanne abgesägt. Wir sind von Lichtenrade zusammen mit Ernst und von unserer Barackenleitung geliehener Säge nach Tempelhof mit geliehenen Fahrrädern gefahren und haben in einer Ruinengegend vor den Trümmern einer Villa den Baum abgesägt. Und natürlich geklaut. Und da wir im Grunde ja beim Stehlen und Organisieren aus der Übung gekommen waren, hatten wir zur Eile auch Schiss, mit dem Erfolg, dass wir die Säge liegen gelassen haben. Und das gab dann hinterher den Knatsch: Nicht mit einem Baumeigentümer, sondern mit dem Lagerchef und Verleiher der Säge. Das war schlimm genug!

An unsere "Brotrationennebenverdienste" konnte Gottfried sich nicht mehr besinnen. Er war trotz seiner "inneren Größe" doch noch klein. Also: Lichtenrade hatte zwei Barackenlager, ungefähr einen Kilometer auseinander, aber nur eine Küche, und die war bei uns. Dann gab es einen Ackerwagen mit dem zum Mittagessen die großen Metallbehälter ins andere Lager gefahren werden mussten. Aber es gab keine Pferde. Und so übernahmen Heinz, Ernst und ich den Transport. Heinz an der Deichsel, einer hinten links und der andere rechts schiebend oder in die Speichen greifend, je nachdem ob es eben oder bergig war. Dafür bekamen wir doppelte Portion an Maisbrot und hin und wieder noch irgendetwas anderes zu essen.

Noch zwei Sachen will ich kurz aus Lichtenrade erzählen. Irma Ella ging erstmals zum Frisör, um sich nach langer Zeit die erste Dauerwelle machen zu lassen. Irgendein Mädchen begann an ihrem Kopf zu arbeiten, unterbrach abrupt und holte den Chef. Der betrachtete Irmas Haare aus einiger Entfernung und forderte Irma auf, den Stuhl und das Haus zu verlassen. Sie seien nicht dafür da, Nissenkolonien zu entfernen und Läuse abzusammeln. Es muss schrecklich gewesen sein für Irma.

Und noch ein Zweites: Wir wussten ja nicht, wie es weitergehen sollte. Von Onkel Horst Rudolf in Oldenburg wussten wir noch nichts. Ich beschloss, mir eine Lehrstelle zu suchen. Ich ging in ein Farbengeschäft, so zur Probe. Gleich am ersten Tag musste ich den Laden auskehren. Ich kehrte, wie ich es gewohnt war, mit dem Besen "auf mich zu". Da brüllte der Chef mich an: "Man kehrt immer vor sich hin, damit man beim Rückwärtsgehen nichts kaputt machen kann!!!". Er hätte es ja auch anständig sagen können! Ich war schon narret! Dann kam eine Frau herein und fragte nach irgendeinem Weg. Der Chef wies sie ab. Er wisse es nicht! Aber ich, ich reingeschmecktes Flüchtlingskind, wusste durch Zufall den richtigen Weg. Ich unterbrach das Fegen und zeigte ihn ihr. Und als sie dankend draußen war, da hat der Mann mich regelrecht zusammengeschissen. Ich hätte nicht ungefragt in seinem Laden den Mund aufzumachen! Da habe ich dann doch noch einmal ungefragt den Mund aufgemacht und ihm erklärt: Es solle mal seinen Laden fortan lieber selber fegen! Und ich habe, dem Gefühl nach, als Sieger und hocherhobenen Hauptes das Haus verlassen, für immer!