Nana Glen, Australien
Berlin-Lichtenrade - Weihnachten 1945
Es wird ja wohl Weihnachten, ob wir es
wollen oder nicht. Ich würde sagen "lieber nicht!", denn es ist nicht
mehr das, was es mal vor langen Jahren erschien.
Na ja, wie es kracht
– so bullert’s! Was
immer das wohl heißt.
Es ist spät in der Nacht, und das ist
schön.
Und, ja, wir sind noch immer im Lager
in Berlin-Lichtenrade. Am Ende des Jahres 1945. Winter, der Kanonenofen
bullert, und Weihnachten versucht, aufzuwachen. Was ist denn da so
schön? So wichtig? So unvermeidlich nötig an Weihnachten? Jedenfalls in
Deutschland??? Ach, ihr wisst es ja doch schon!! Nein, nein! Nicht die
Gans! Und der Karpfen steht doch erst Ostern an!
Ach, Kinder! Zurück zur Natur!! Der BAUM
natürlich!! Der Tannenbaum! Das tief verankerte Heidentum! Die
Wünschelrute des Zaubergottes!! Oh ja! Ohne den geht es nicht.
Und so fühlten wir auch damals im Lager.
In der Baracke. Ein Baum musste sprossen!! So ward es beschlossen!!
Die Bujas
– das sind wohl
Heinz und Hans gewesen, denn Ernst war ja im Krankenhaus
– waren auserwählt,
sich auf den Weg in die Weihnachtszeit zu machen. Nicht den Stern und
besagten Sohn, aber einen Tannenbaum zu finden, und das im
Nachkriegsberlin und in der Mitte der Nacht. Denn Weihnachten ist ja
doch eine nächtliche Angelegenheit.
Sie verschwanden also in der Dunkelheit
mit einem Strohsack und irgendeinem Schneidewerkzeug. Und wirklich!!!
Sie kamen mit einem Baum im Strohsack zurück!!
Einem wunderschönen! Vielleicht zwei Meter
hoch! Eine Tanne. Eine blaue Edeltanne. Groß war die Freude
– und groß war die
Angst! Denn die Tanne war der Stolz eines Berliner Vorgartens. Geliebt,
und nun vermisst von den Bewohnern des Hauses, dass zu dem Vorgarten
gehörte.
Der Baum verschwand erstmal unter einem
der Betten, wo er den erwarteten Sturm überdauern sollte.
Dieser folgte auf dem Fuße. Die
eigentlichen Eigentümer dieser edlen Tanne lebten nicht zu fern von
unserer Bleibe, glaube ich. Natürlich waren wir armen Flüchtlinge die
ersten auf der Liste der Beschuldigten. Zufälligerweise gerechtfertigt.
Nun, Leute kamen. Beschwerden kamen. Beschuldigungen kamen.
– Unser Name war
"Hase". Wir lebten im Walde und wussten von Nichts.
Es war wohl noch einige Zeit bis zum Fest,
so dass sich der Rummel austoben konnte, ohne die Übeltäter zu
entdecken. Und dann kam der "Heilige Abend". Eine wunderschöne blaue
Edeltanne stand in Baracke 4. Wir beanspruchten den oberen Teil
des Baumes zum Schmücken, mit Strohsternen und selbstgebastelten Dingen.
Von mir war da vielleicht eine eigenhändig kunstgestopfte Socke zur
Schau gestellt (only kidding). Aber nein, die Krone des Baumes war sehr
geschmackvoll und schön.
Die untere und viel größere Hälfte war der
polnischen Familie überlassen, und die war wirklich etwas Anderes.
Überladen mit Watte und einem kitschigen Santa Klaus mit Rentieren und
Schlitten und allen möglichen
– auch geklauten
– Herrlichkeiten.
"Hab’ ich gefunden auf Gemüll!" war eine sich wiederholende Erklärung
des Polen für was immer er anschleppte.
Nun, es war ein sicherlich zweigeteilter
Baum, wenigsten im Geschmack. Der Lagerleiter besuchte uns. Er mochte
unseren Clan. Er war sehr überrascht von der Schönheit unseres Baumes
und freute sich, dass wir ihn hatten. Er konnte ein Schmunzeln nicht
verbergen, und auf unseren Gesichtern strahlte die frisch gewaschene
Unschuld. Irma Ella hat uns auch überhaupt nicht ins Gebet genommen. Denn es
war doch Weihnachten! Das Fest der Liebe.
Mit diesem bemerkenswerten Fest verdunkeln
sich meine Erinnerungen an das Lager und an Berlin. Erst in Oldenburg
werden sie wieder ans Licht krauchen. So schließe ich denn heute, mit
guten Wünschen an alle und die Welt zum Weihnachtsfest und das Jahr
2009.
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19.12.2008
Hans
Berlin-Lichtenrade 1945
Gestern sprach ich mit
Gottfried, nachdem
ich seine "Dichtung und Wahrheit " gelesen hatte. Er erlaubte mir einige
Korrekturen und Ergänzungen.
Also, Wir haben nicht in irgendeinem
Vorgarten eine Edeltanne abgesägt. Wir sind von Lichtenrade zusammen mit
Ernst und von unserer Barackenleitung geliehener Säge nach Tempelhof
mit geliehenen Fahrrädern gefahren und haben in einer Ruinengegend vor
den Trümmern einer Villa den Baum abgesägt. Und natürlich geklaut. Und
da wir im Grunde ja beim Stehlen und Organisieren aus der Übung gekommen
waren, hatten wir zur Eile auch Schiss, mit dem Erfolg, dass wir die
Säge liegen gelassen haben. Und das gab dann hinterher den Knatsch:
Nicht mit einem Baumeigentümer, sondern mit dem Lagerchef und Verleiher
der Säge. Das war schlimm genug!
An unsere "Brotrationennebenverdienste"
konnte Gottfried sich nicht mehr besinnen. Er war trotz seiner "inneren
Größe" doch noch klein. Also: Lichtenrade hatte zwei Barackenlager,
ungefähr einen Kilometer auseinander, aber nur eine Küche, und die war
bei uns. Dann gab es einen Ackerwagen mit dem zum Mittagessen die großen
Metallbehälter ins andere Lager gefahren werden mussten. Aber es gab
keine Pferde. Und so übernahmen Heinz, Ernst und ich den Transport.
Heinz an der Deichsel, einer hinten links und der andere rechts
schiebend oder in die Speichen greifend, je nachdem ob es eben oder
bergig war. Dafür bekamen wir doppelte Portion an Maisbrot und hin und
wieder noch irgendetwas anderes zu essen.
Noch zwei Sachen will ich kurz aus
Lichtenrade erzählen. Irma Ella ging erstmals zum Frisör, um sich nach
langer Zeit die erste Dauerwelle machen zu lassen. Irgendein Mädchen
begann an ihrem Kopf zu arbeiten, unterbrach abrupt und holte den Chef.
Der betrachtete Irmas Haare aus einiger Entfernung und forderte Irma
auf, den Stuhl und das Haus zu verlassen. Sie seien nicht dafür da,
Nissenkolonien zu entfernen und Läuse abzusammeln. Es muss schrecklich
gewesen sein für Irma.
Und noch ein Zweites: Wir wussten ja
nicht, wie es weitergehen sollte. Von Onkel Horst Rudolf in Oldenburg
wussten wir noch nichts. Ich beschloss, mir eine Lehrstelle zu suchen.
Ich ging in ein Farbengeschäft, so zur Probe. Gleich am ersten Tag
musste ich den Laden auskehren. Ich kehrte, wie ich es gewohnt war, mit
dem Besen "auf mich zu". Da brüllte der Chef mich an: "Man kehrt immer
vor sich hin, damit man beim Rückwärtsgehen nichts kaputt machen
kann!!!". Er hätte es ja auch anständig sagen können! Ich war schon
narret! Dann kam eine Frau herein und fragte nach irgendeinem Weg. Der
Chef wies sie ab. Er wisse es nicht! Aber ich, ich reingeschmecktes
Flüchtlingskind, wusste durch Zufall den richtigen Weg. Ich unterbrach
das Fegen und zeigte ihn ihr. Und als sie dankend draußen war, da hat
der Mann mich regelrecht zusammengeschissen. Ich hätte nicht ungefragt
in seinem Laden den Mund aufzumachen! Da habe ich dann doch noch einmal
ungefragt den Mund aufgemacht und ihm erklärt: Es solle mal seinen Laden
fortan lieber selber fegen! Und ich habe, dem Gefühl nach, als Sieger
und hocherhobenen Hauptes das Haus verlassen, für immer! |