Lebensberichte und Familienchroniken

Gottfried F.

Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten

19.11.2008

 

 

Nana Glen, Australien

Barackenlager Berlin-Lichtenrade

Gestern wäre Irma Ellas 100-ster Geburtstag gewesen. Wir werden unaufhaltsam älter. Prost neues Jahr!

Weiterhin kann ich berichten, dass mein "Kanu" in Berlin an Land gestoßen ist. Und zwar in Berlin -Lichtenrade. Noch genauer: Im Barackenauffanglager hinter Stacheldraht und festem Tor.

"Turm um uns sich türmt,
Tod dem, der dich schuf,
besser wäre Glass,
helles klares Glass.

Wiehernde Pferde stampfen die Erde,
warten auf Reiter, warten auf Sieg"
… und so weiter.

Lied der "Deutschen Jungenschaft", der wir irgendwann angehörten.

Da standen wir denn in der Mitte unserer Barackenbleibe. Ein nicht zu kleiner Raum in ganzer Breite der Baracke. Die Türe an der Seite führte direkt in die Mitte des Raumes.

Da waren dann Stockwerksbetten entlang der linken Wand, und die bezogen wir. An der rechten Wand befanden sich gleiche Betten, und diese wurden von einer jüngeren polnischen Familie bewohnt (glaub ich). Die Betten waren aus Holz mit Latten und Strohsäcken darauf. Wir hatten Decken.

Auch, glaube ich, war da ein Tisch in der Mitte und Bänke. Dann war da noch ein dünnwandiger Kanonenofen, der sich sehr schnell erhitzen ließ und auf dem man sogar ein bisschen kochen konnte. Das war’s also für die unbekannte Zukunft.

Was wir so an privaten Dingen hatten, versteckten wir unter unseren Strohsäcken.

Ich muss berichten, dass Irma Ella beim Überschreiten der Grenze ins Reich uns Kinder ins Gebet genommen hatte. "Kinder!! Wir sind jetzt nicht mehr in Polen! Wir sind in Deutschland. Wir haben eine Regierung. Und wir haben Kaufläden und Bäcker und ein normales Leben. Wir werden von der Regierung verpflegt und bekommen sogar etwas Geld!! SOOO!!! Von jetzt an sind wir wieder ehrliche Menschen! Nichts wird mehr gestohlen, geklaut oder organisiert!!! HABT IHR DAS BEGRIFFEN!!???" "Ja, Mama!!"

Hier will ich etwas vorauseilen. Es dauerte nicht lange, bis wir auch in die Stadt gehen durften und auch in Läden. So vergesse ich nie, wie Irma Ella mit mir in einen Bäckerladen eintrat. Es war alles sehr ärmlich und leer darin. Während wir warteten, bedient zu werden, zupfte ich Irma am Ärmel, deutete auf ein fast leeres Regal und flüsterte, "Mutti, kuck mal, da liegt Hefe im Regal". "Untersteh dich!" war Mutters drohende Antwort.

Na gut, muss ich wohl gedacht haben. Zurück auf der Strasse holte ich nach ein paar Schritten die Hefe aus der Tasche und zeigte sie stolz vor!!! Es war niederschmetternd!! Mutter wusch mir auf offener Strasse und mit Lautstärke den Kopf, nahm mich bei der Hand und es ging zurück zum Laden. Mutter erläuterte öffentlich meine schreckliche, verbotene Tat. Ich legte die Hefe zurück und entschuldigte mich unter Tränen.

Für die Zukunft habe ich dann begriffen, dass, wenn man mal was klaut, dann ist es besser, den Mund zu halten oder das Blaue vom Himmel zu lügen. Ich habe überlebt, aber nur gerade noch!

Hier unterbreche ich. Vielleicht sogar endgültig für heute. Bis bald dann.

05.12.2008

Barackenlager Berlin-Lichtenrade II

Nun will ich schreiben. Habe mit Hans gesprochen. Weiß nun, dass ich schreiben möchte. Nicht für alle und jeden, doch für mich selbst und ein paar Leutchen, die mir wichtig sind oder besser, geworden sind.

Also, gerade bin ich in Berlin-Lichtenrade hinter Zäunen und in gewisser Sicherheit. Wir alle sind es! Ernst ist im Krankenhaus, da er unterernährt und wassersüchtig ist.

Opa Willi ist auch in Sicherheit, denn er starb am 01. November 1945 kurz nach unserer Ankunft in Berlin. Ich bin sicher, dass er sich das zu jenem Zeitpunkt seines Lebens sehr gewünscht hat.

Wir waren also im Lager. Langeweile war gegenwärtig. Selbst ich lernte Strümpfe mit Stolz und Freude zu stopfen. Kunststopfer nannte ich mich wohl oder dachte es zu sein. Zu stricken habe ich angefangen, doch nie beendet. Ich weiß nicht, wie lange das alles gedauert hat.

Der Lagerleiter mochte uns. Da bin ich mir sicher. Wir bekamen täglich unser amerikanisches Weißbrot und Milch. Sogar heute noch muss ich gestehen, dass das Weißbrot einfach wie Rapunzels Haar war. Es war da und da, aber es rettet dich nicht vom Klettern ohne Erfolg. Wir bröckelten es in die Milch, im kleinen Aluminiumkessel auf dem kleinen, sehr heißen Kanonenofen, und es war Himmel wie wir ihn uns in damaligen Zeiten vorstellten.

Wir waren am Leben. Da kam eine Frau ins Lager, Gutes zu tun. Kinder waren in ihrem Herzen und ihrem Wollen. Sie hatte keine eigenen, aber wollte die Kinder der Welt in Sicherheit wissen. Eine gute Seele. Sie kam zu uns mittels des Lagerführers. Sie war so voller Hilfe und Liebe für uns alle. Als sie erfuhr, dass Irma Ella gut im Nähen war, gab sie ihr sofort Arbeit als Näherin bei sich zuhause, denn sie war in der kümmerlichen Modeindustrie tätig. Nicht dass ich sie verdamme, doch kinderlos, ungefähr in ihrem 50-sten Lebensjahr, war nicht zu verhindern, dass sie nach einem Kind dürstete. Wie es nun so kam, fand sie mich ganz fabelhaft. Ich kann ihr das auch heute noch nicht verdenken, denn auch ich habe rege positive Gefühle bezüglich meiner Person, die nach all den Jahren noch nicht ganz verloschen sind.

Sie bestand darauf, dass Irma Ella, wann immer sie zum Nähen kam, ihren Goldsohn Hanneput mitbrachte. Sie überhäufte mich mit Sachen. Ich kann nicht mehr im Einzelnen an diese erinnern, außer an die wunderbare, ganz neue, dunkelblaue Schihose, den Pullover und das gute Essen, das wir von ihr vorgesetzt bekamen. Es muss himmlisch gewesen sein.

Und dann kam der Tag, wo alles zusammenbrach. Diese gute, einsame Frau wollte ein Kind. Und ich war das, was sie nun mal wollte. Sie sagte, dass Irma doch so viele hätte, und sie könnte doch so viel besser für mich sorgen, mit Liebe, mit allem, was doch so gut für mich wäre in diesen schweren Zeiten.

Nun, Irma Ella war da ganz anderer Meinung. Sie zeigte ganz klar, wie wertvoll ich auch für sie war, selbst als gelegentlicher Schmerz im Hintern!

Irma verlor ihre Näharbeit, und ich hatte den Pullover nebst allen anderen Gaben zurückzugeben. Ich weiß noch sehr wohl, dass das Loch, das ich mir am Knie in die wunderschöne Schihose an unserem Kanonenofen gesengt hatte, denn es war ja mittlerweile kalter Winter, mich ganz und gar nicht mehr bekümmerte.

Ich schließe nun für heute, denn es geht auf Weihnachten zu. Da habe ich auch etwas zu berichten. Weihnachten im Lager in Berlin aber nicht jetzt! Wir haben ja noch nicht einmal den ersten Advent! Oder bin ich da falsch gewickelt??

Übrigens habe ich mein Kanu in Berlin ins Kriegsmuseum gegeben. Vielleicht muss ich nun auf Socken durch die Erinnerungen schlurfen. Ein Pferd! ein Pferd!!! Meine Erinnerungen für ein Pferd. Ich mach’s auch mit einem Esel und sicher viel sicherer und besser.

Ach, ist es nicht wunderschön, das gehabte Leben noch einmal so nahe zu sehn??!!!
Shit! I love it!!!!!!
 

 

Flüchtlingslager
Berlin-Lichtenrade

Im Web findet sich viel über die Baracken in Berlin-Lichtenrade ... in den 20-er Jahren waren dort russische Flüchtlinge untergebracht, während der Nazizeit Zwangsarbeiter, nach 1945 Flüchtlinge aus dem Osten, danach hat die Stasi dort agiert ..

... bislang fand sich jedoch nichts Konkretes über die Flüchtlinge aus dem Osten in den Jahren 1945 / 46 in den Baracken ....

... oder hat noch jemand Dokumente und Photos aus der Zeit ???

Flüchtlinge aus dem Osten 1945 in Berlin ... so ähnlich werden die F. auch ausgesehen haben