Lebensberichte und Familienchroniken

Gottfried F.

Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten

18.11.2008

 

 

Nana Glen, Australien

Der Zug in den Westen

Da waren im Ganzen, glaube ich, fünf Züge mit Viehwagons, in denen die nun doch schon ein bisschen bestehende polnische Regierung die meisten noch im Osten weilenden Deutschen ins "Deutsche Reich" versandte.

Das war schon spät im Herbst 1945. Die Kälte schon im Anzug. Wir, das heißt alle der verbliebenen Familie, waren in diesem letzten Zug. Wenn ich mich recht erinnere, alle im gleichen Viehwagen mit wenigsten 60 anderen Leuten.

Wir saßen dicht gedrängt auf dem Holzboden oder auf unserem Gepäck. Nur Opa Müller saß, wie immer und schon seit langer Zeit, in seinem schweren Armstuhl aus Eichenholz. Er konnte ja schon seit langem nicht mehr gehen und stehen, und so trugen wir ihn in seinem Stuhl, vier Leute an den Ecken, in kurzen Schüben, wo immer er hinwollte oder musste. Er saß also in der Ecke des Viehwagons in seinem gewohnten "Komfort" Wir anderen aber saßen oder lagen auf dem dreckigen Boden herum. Ach halt, Eckardt war auch recht bequem in seinem beladenen Kinderwagen untergebracht.

Bald wurde Eckardt zu der größten Berühmtheit in unserem Wagon. Und das kam so:

Die Schiebetüren der Wagons wurden von außen verschlossen. Fenster gab es keine. Nur hoch unter der Decke befanden sich vergitterte Lüftungsklappen, durch die Luft und auch ein bisschen Licht fiel. Wir waren also eingesperrt auf Gedeih und Verderb. Unterernährt und wassersüchtig, was wir fast alle waren, wie sollten wir da wohl unsere körperlichen Bedürfnisse der unteren Gefilde organisieren und gar meistern??

Hier nun hatte Eckardt es möglich gemacht, dass nicht nur er seinen mitgeführten Nachttopf benutzen konnte. Oh nein! Es muss wohl ein endloses "Ringelreigenspiel" gewesen sein. Ich vermute, wir waren vielleicht 70 Mitspieler in dem Wagon. Eckardt machte die Sache ertragbar. Ich will mir nicht ausdenken, was in den anderen Wagen geschah, ohne solch einen jugendlichen Helden.

Der Zug fuhr also in Richtung Berlin. Oft gab es da Stopps auf offener Strecke, ohne dass die Gründe erkennbar wurden. In solchen Umständen war der Topf immer besonders begehrt. Jeder, der hoch zu einer der Lucken reichen konnte, wollte der erste sein, denn es entwickelte sich die Hoffnung, von Ehrgeiz geschürt, die Gelegenheit zu haben, einen draußen vorbeimarschierenden Soldaten oder wen auch immer in heilkräftiger Weise zu segnen. Das belebte dann manchmal die dahindösende Gemeinde außerordentlich.

Ich weiß noch heute, dass ich neben einem alten Mann mit Bart saß, der einen dicken dunkelblauen Mantel trug. Selbst in dem schwachen Licht hoben sich die gelblich-weißen Läuse ganz klar auf dem Dunkelblau ab. Ich hatte keine Wahl, sondern hatte ihrem täglichen munteren Treiben beizuwohnen und wohl auch aktiv von ihnen besucht zu werden. Hatten wir doch alle möglichen Arten von kleinen Lebewesen in unseren Roben.

Hier nun muss ich erwähnen, dass fast jeder von uns so viel wie möglich an Kleidern auf dem Körper trug. Frauen mit drei Unterhosen, vier Röcken, etlichen Blusen, 25 Büstenhaltern, drei Halstüchern und vier Hüten waren wohl nicht ungewöhnlich. Auch wir Kinder Männer, außer dem Alten mit dem Lausestaat neben mir, befanden sich ja keine mehr bei uns trugen alles, was wir hatten, am Körper. Es war fast schon winterkalt, doch gefroren haben wir daher kaum. Auch saßen wir dichtgedrängt. Der Stallmief muss wohl schon recht gewaltig gewesen sein.

Nicht weit von uns saß eine Mutter mit ihrer Tochter von vielleicht 20 Jahren. Beide in dicken blauen Mänteln. Beide kreidebleich und aufgedunsen. Sie leuchteten im Halbdunkel so wie faulende Bäume im Wald leuchten können. Sie waren offenbar todkrank. Sie starben noch in der Nacht. Beide! Die Bujas das heißt meine Brüder, wie sie oft im Sammelbegriff genannt wurden begruben sie während eines längeren Aufenthaltes neben den Bahngeleisen.

Hans hat da noch mehr und manchmal auch etwas anders lautende Erinnerungen an diese dunklen Geschehnisse. Doch in meinem Kopf steht und stand es immer, wie ich es erzählen muss.

Dieser Aufenthalt des Zuges war ein Nächtlicher. Der Zug hielt außerhalb einer Station auf offener Gleisstrecke. Jedoch zogen sich da doch schon irgendwelche Stahlkonstruktionen die Geleise entlang.

Es war eine lange Pause. Die Schiebetüren wurden geöffnet, und wir strömten alle hinaus auf den Bahndamm. Feuer erwachten in kurzer Zeit den Zug entlang, und auch die Wachen schienen sich daran zu freuen, denn irgendwie waren wir ohne Angst. Ich kann mich jedenfalls keiner besonders erinnern.

Doch nun passierte etwas ganz Tolles. Unerwartet und voller Panik.

Da waren also diese kleinen Feuer vor fast jedem Wagon. Woher das Holz kam, weiß ich nicht, doch wir hatten genug. Schwarz und kalt war die Nacht. Die Feuer blendeten und machten uns im Dunkeln blind. Tante Erna verließ uns für eine Weile, wohl auf der Suche nach einer privaten Ecke für eine private Beschäftigung. Eckardts Topf war ja im Wagon mit unseren Siebensachen. Auch ist es doch erstrebenswerter, sich unter freiem nächtlichem Himmel und den leuchtenden Sternen nicht nur sich befreienden Gedanken hinzugeben, sondern sich auch über die Flure zu ergießen.

Also, Tante Erna verließ uns. Von Feuern leicht geblendet, arbeitete sie sich den Zug entlang. Da kam sie zu einer "Dampflokomotivenwasserauffülleinrichtung", die wie ein Kran mit einem herunterhängenden Wasserschlauch neben den Gleisen steht, so dass der Schlauch über die Lokomotive geschwenkt werden und die Lokomotive Wasser aufnehmen kann. Ist deutsch nicht eine schöne und so klar verständliche Sprache?? Mit anderen Worten, habt Ihr verstanden, was ich meine??

Ja, und da ist dann auch immer eine Betonabflussgrube unter solchen Kränen mit einem Eisenrost darüber und fast immer randvoll mit Wasser. So war es auch mit dieser dunklen Grube bestellt, nur der Rost muss wohl dem Krieg zum Opfer gefallen sein, um Kanonen daraus zu gießen. Jedenfalls war er weg. Einfach nicht da. Abwesend. Ohne jede Warnung. Und das im Dunkeln.

Natürlich konnte Tante Erna das nicht wissen und eben so wenig sehen, denn der Schein der Feuer machte sie nachtblind. Die Folge: Sie fiel in die Grube und damit ins Wasser, und das bis zum Hals.

Wir hatten das nicht gleich mitbekommen, denn sie hatte sich ja aus begreiflichen Gründen beinahe davongeschlichen. Hilfreiche Hände hatten sich gefunden, sie schnell aus der Grube herausgezogen und sie triefend und zitternd bei uns abgeliefert. Nun wisst ihr ja schon, wie viele Klamotten jeder von uns am Leibe trug. So ziemlich alles was jeder besaß. So auch Tante Erna. Alles klatschnass und kalt.

Wir fanden schnell ein paar Decken, zum ersten, um sie vor anderer Blicke zu schirmen, denn sie musste ja völlig ausgepellt ans Feuer zum Trocknen und Wärmen gebracht werden, zum zweiten, um sie dann in eine Decke gewickelt zur Erholung zu legen. Dies alles war ein ziemlicher Schock für uns. Doch muss ich berichten, dass es auch noch ganz heiter wurde. Tante Ernas ganzer Kleiderschrank wurde an die Herumstehenden verteilt. Jeder bekam etwas, 25 Büstenhalter, 30 Unterhosen, zwei Fuchsschwänze nebst einer Persianerjacke, eine Nerzstola, ein Hermelinmuff und zwei mit einer Schnur verbundene Wollhandschuhe. Da waren wohl auch noch ein paar Röcke, fünf einzelne Seidenstrümpfe (zwei davon mit Laufmaschen). Also, ich sage euch, es waren eine ganze Menge lebenswichtiger Dinge, die da von Hand zu Hand ging. Jeder drängte ums Feuer und schwenkte die geborgte Beute zum Trocknen. Es wurde gelacht. Männer gab es da ja keine. So waren wir unter uns.

EINE NACHT ZUM ERINNERN!!

Der Zug schluckte uns dann irgendwann wieder und tuckerte uns nach Berlin. Das ist eine andere Geschichte. Jetzt mache ich erst mal Lunch und ziehe mir die Beine aus dem Bauch.

Man wird doch ziemlich rostig, wenn man da so herumsitzt und sein Erinnerungseuter melkt.

Übrigens regnet es heute und gestern war ein furchtbarer Sturm in Brisbane. 30 Hauser sind fast ganz verschwunden und hunderte von Häusern ohne Dach und mit Zahnlücken in den Hauswänden. Ein Toter.

Eugen Roth sagte mal:

"Ein Mensch, der hinterm Ofen sitzt,
liesst in der Zeitung,
dass ein Mann im Gebirge ist erfroren!
Zwar tut der arme Mann ihm leid,
doch steigert's die Behaglichkeit."

Ich mach mir jetzt ´ne Butterbimme.

Da fällt mir noch ein anderer Spruch ein:

"Ick hab da en Problem!
Ick sollt mir ejendlich schäm!
Ick schäm mir aber nich.
Wat denkste nu off mich???
 

 

 

Das Web ist voll von Geschichten und Literatur über die beschriebenen Viehwagons (Guggel: Viehwagon), in denen während der Nazizeit Juden in die Konzentrationslager transportiert wurden, nach dem Krieg Soldaten in Kriegsgefangenenlager und Flüchtlinge vom Osten in den Westen.

Wasserkräne für Dampflokomotiven

... irgendwie sieht auf obigem Bild unten rechts die Abflussgrube ein bisschen zu klein aus für ein Vollbad ...