Nana Glen, Australien
Der Zug in den Westen
Da waren im Ganzen, glaube ich, fünf Züge
mit Viehwagons, in denen die nun doch schon ein bisschen bestehende
polnische Regierung die meisten noch im Osten weilenden Deutschen ins
"Deutsche Reich" versandte.
Das war schon spät im Herbst 1945. Die
Kälte schon im Anzug. Wir, das heißt alle der verbliebenen Familie,
waren in diesem letzten Zug. Wenn ich mich recht erinnere, alle im
gleichen Viehwagen mit wenigsten 60 anderen Leuten.
Wir saßen dicht gedrängt auf dem Holzboden
oder auf unserem Gepäck. Nur Opa Müller saß, wie immer und schon seit
langer Zeit, in seinem schweren Armstuhl aus Eichenholz. Er konnte ja
schon seit langem nicht mehr gehen und stehen, und so trugen wir ihn in
seinem Stuhl, vier Leute an den Ecken, in kurzen Schüben, wo immer er
hinwollte oder musste. Er saß also in der Ecke des Viehwagons in seinem
gewohnten "Komfort" Wir anderen aber saßen oder lagen auf dem dreckigen
Boden herum. – Ach
halt, Eckardt war auch recht bequem in seinem beladenen Kinderwagen
untergebracht.
Bald wurde Eckardt zu der größten Berühmtheit
in unserem Wagon. Und das kam so:
Die Schiebetüren der Wagons wurden von
außen verschlossen. Fenster gab es keine. Nur hoch unter der Decke
befanden sich vergitterte Lüftungsklappen, durch die Luft und auch ein
bisschen Licht fiel. Wir waren also eingesperrt auf Gedeih und Verderb.
Unterernährt und wassersüchtig, was wir fast alle waren, wie sollten wir
da wohl unsere körperlichen Bedürfnisse der unteren Gefilde organisieren
und gar meistern??
Hier nun hatte Eckardt es möglich gemacht,
dass nicht nur er seinen mitgeführten Nachttopf benutzen konnte. Oh
nein! Es muss wohl ein endloses "Ringelreigenspiel" gewesen sein. Ich
vermute, wir waren vielleicht 70 Mitspieler in dem Wagon. Eckardt machte
die Sache ertragbar. Ich will mir nicht ausdenken, was in den anderen
Wagen geschah, ohne solch einen jugendlichen Helden.
Der Zug fuhr also in Richtung Berlin. Oft
gab es da Stopps auf offener Strecke, ohne dass die Gründe erkennbar
wurden. In solchen Umständen war der Topf immer besonders begehrt.
Jeder, der hoch zu einer der Lucken reichen konnte, wollte der erste
sein, denn es entwickelte sich die Hoffnung, von Ehrgeiz geschürt, die
Gelegenheit zu haben, einen draußen vorbeimarschierenden Soldaten oder
wen auch immer in heilkräftiger Weise zu segnen. Das belebte dann
manchmal die dahindösende Gemeinde außerordentlich.
Ich weiß noch heute, dass ich neben einem
alten Mann mit Bart saß, der einen dicken dunkelblauen Mantel trug.
Selbst in dem schwachen Licht hoben sich die gelblich-weißen Läuse ganz
klar auf dem Dunkelblau ab. Ich hatte keine Wahl, sondern hatte ihrem
täglichen munteren Treiben beizuwohnen und wohl auch aktiv von ihnen
besucht zu werden. Hatten wir doch alle möglichen Arten von kleinen
Lebewesen in unseren Roben.
Hier nun muss ich erwähnen, dass fast
jeder von uns so viel wie möglich an Kleidern auf dem Körper trug.
Frauen mit drei Unterhosen, vier Röcken, etlichen Blusen, 25
Büstenhaltern, drei Halstüchern und vier Hüten waren wohl nicht
ungewöhnlich. Auch wir Kinder
– Männer, außer dem
Alten mit dem Lausestaat neben mir, befanden sich ja keine mehr bei uns
– trugen alles, was
wir hatten, am Körper. Es war fast schon winterkalt, doch gefroren haben
wir daher kaum. Auch saßen wir dichtgedrängt. Der Stallmief muss wohl
schon recht gewaltig gewesen sein.
Nicht weit von uns saß eine Mutter mit
ihrer Tochter von vielleicht 20 Jahren. Beide in dicken blauen Mänteln.
Beide kreidebleich und aufgedunsen. Sie leuchteten im Halbdunkel so wie
faulende Bäume im Wald leuchten können. Sie waren offenbar todkrank. Sie
starben noch in der Nacht. Beide! Die Bujas
– das heißt meine
Brüder, wie sie oft im Sammelbegriff genannt wurden
– begruben sie
während eines längeren Aufenthaltes
neben den
Bahngeleisen.
Hans hat da noch mehr und manchmal auch
etwas anders lautende Erinnerungen an diese dunklen Geschehnisse. Doch
in meinem Kopf steht und stand es immer, wie ich es erzählen muss.
Dieser Aufenthalt des Zuges war ein
Nächtlicher. Der Zug hielt außerhalb einer Station auf offener
Gleisstrecke. Jedoch zogen sich da doch schon irgendwelche
Stahlkonstruktionen die Geleise entlang.
Es war eine lange Pause. Die Schiebetüren
wurden geöffnet, und wir strömten alle hinaus auf den Bahndamm. Feuer
erwachten in kurzer Zeit den Zug entlang, und auch die Wachen schienen
sich daran zu freuen, denn irgendwie waren wir ohne Angst. Ich kann mich
jedenfalls keiner besonders erinnern.
Doch nun passierte etwas ganz Tolles.
Unerwartet und voller Panik.
Da waren also diese kleinen Feuer vor fast
jedem Wagon. Woher das Holz kam, weiß ich nicht, doch wir hatten genug.
Schwarz und kalt war die Nacht. Die Feuer blendeten und machten uns im
Dunkeln blind. Tante Erna verließ uns für eine Weile, wohl auf der Suche
nach einer privaten Ecke für eine private Beschäftigung. Eckardts Topf war
ja im Wagon mit unseren Siebensachen. Auch ist es doch erstrebenswerter,
sich unter freiem nächtlichem Himmel und den leuchtenden Sternen nicht
nur sich befreienden Gedanken hinzugeben, sondern sich auch über die
Flure zu ergießen.
Also, Tante Erna verließ uns. Von Feuern
leicht geblendet, arbeitete sie sich den Zug entlang. Da kam sie zu
einer "Dampflokomotivenwasserauffülleinrichtung", die wie ein Kran mit
einem herunterhängenden Wasserschlauch neben den Gleisen steht, so dass
der Schlauch über die Lokomotive geschwenkt werden und die Lokomotive
Wasser aufnehmen kann. –
Ist deutsch nicht eine schöne und so klar verständliche Sprache?? Mit
anderen Worten, habt Ihr verstanden, was ich meine??
Ja, und da ist dann auch immer eine
Betonabflussgrube unter solchen Kränen mit einem Eisenrost darüber und
fast immer randvoll mit Wasser. So war es auch mit dieser dunklen Grube
bestellt, nur – der
Rost muss wohl dem Krieg zum Opfer gefallen sein, um Kanonen daraus zu
gießen. Jedenfalls war er weg. Einfach nicht da. Abwesend. Ohne jede
Warnung. Und das im Dunkeln.
Natürlich konnte Tante Erna das nicht
wissen und eben so wenig sehen, denn der Schein der Feuer machte sie
nachtblind. Die Folge: Sie fiel in die Grube und damit ins Wasser, und
das bis zum Hals.
Wir hatten das nicht gleich mitbekommen,
denn sie hatte sich ja aus begreiflichen Gründen beinahe
davongeschlichen. Hilfreiche Hände hatten sich gefunden, sie schnell aus
der Grube herausgezogen und sie triefend und zitternd bei uns
abgeliefert. Nun wisst ihr ja schon, wie viele Klamotten jeder von uns
am Leibe trug. So ziemlich alles was jeder besaß. So auch Tante Erna.
Alles klatschnass und kalt.
Wir fanden schnell ein paar Decken, zum
ersten, um sie vor anderer Blicke zu schirmen, denn sie musste ja völlig
ausgepellt ans Feuer zum Trocknen und Wärmen gebracht werden, zum
zweiten, um sie dann in eine Decke gewickelt zur Erholung zu legen. Dies
alles war ein ziemlicher Schock für uns. Doch muss ich berichten, dass
es auch noch ganz heiter wurde. Tante Ernas ganzer Kleiderschrank wurde
an die Herumstehenden verteilt. Jeder bekam etwas, 25 Büstenhalter, 30
Unterhosen, zwei Fuchsschwänze nebst einer Persianerjacke, eine
Nerzstola, ein Hermelinmuff und zwei mit einer Schnur verbundene
Wollhandschuhe. Da waren wohl auch noch ein paar Röcke, fünf einzelne
Seidenstrümpfe (zwei davon mit Laufmaschen). Also, ich sage euch, es
waren eine ganze Menge lebenswichtiger Dinge, die da von Hand zu Hand
ging. Jeder drängte ums Feuer und schwenkte die geborgte Beute zum
Trocknen. Es wurde gelacht. Männer gab es da ja keine. So waren wir
unter uns.
EINE NACHT ZUM ERINNERN!!
Der Zug schluckte uns dann irgendwann
wieder und tuckerte uns nach Berlin. Das ist eine andere Geschichte.
Jetzt mache ich erst mal Lunch und ziehe mir die Beine aus dem Bauch.
Man wird doch ziemlich rostig, wenn man da
so herumsitzt und sein Erinnerungseuter melkt.
Übrigens regnet es heute und gestern war
ein furchtbarer Sturm in Brisbane. 30 Hauser sind fast ganz verschwunden
und hunderte von Häusern ohne Dach und mit Zahnlücken in den Hauswänden.
Ein Toter.
Eugen Roth sagte mal:
"Ein Mensch, der hinterm Ofen sitzt,
liesst in der Zeitung,
dass ein Mann im Gebirge ist erfroren!
Zwar tut der arme Mann ihm leid,
doch steigert's die Behaglichkeit."
Ich mach mir jetzt ´ne Butterbimme.
Da fällt mir noch ein anderer Spruch ein:
"Ick hab da en Problem!
Ick sollt mir ejendlich schäm!
Ick schäm mir aber nich.
Wat denkste nu off mich???
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Das Web ist voll von
Geschichten und Literatur über die beschriebenen Viehwagons (Guggel:
Viehwagon), in denen während der Nazizeit Juden in die
Konzentrationslager transportiert wurden, nach dem Krieg Soldaten in
Kriegsgefangenenlager und Flüchtlinge vom Osten in den Westen.
Wasserkräne für Dampflokomotiven
... irgendwie sieht auf obigem Bild unten
rechts die Abflussgrube ein bisschen zu klein aus für ein Vollbad ...
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