Lebensberichte und Familienchroniken

Gottfried F.

Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten

06.10.2008
akt. 05.09.10

 

 

Nana Glen, Australien

Von Langfuhr nach Oliva

Neulich habe ich Hans über Namen, Leben und Tot von Tante Lotte befragt, über Erna, Else, und ob sie Vaters Geschwister waren oder noch sind. Meine Erinnerungen sind recht trübe, wenn es zu Personen kommt.

Hans konnte mir da sehr genau berichten und – oh ich Unglücklicher!! – auch eine ganze Reihe von "Ungenauigkeiten" berichtigen, die ich in meinem "Kanu der Erinnerung" auf dem Flusse des Lebens im Handgepäck mit mir führe.

Was tun, sprach Zeus, die Götter sind besoffen! Da habe ich, und tue es noch, nachdenken müssen. Und ich kam zu folgendem Entschluss! Ich werde für den Augenblick nur zwei Dinge berichtigen, die doch recht wichtig sind.

Einmal, dass wir nur ganz kurze Zeit bei Oma Müller im Langgarten gewohnt haben und dann nach Langfuhr in die Wohnung von Tante Erna (Schwester von Vater) gezogen sind. Alles, was ich aus unserem Leben Omas Haus in die Schuhe geschoben habe, hat also in Langfuhr stattgefunden, aber genau so, wie beschrieben.

Außer dem zweiten Fehler: Onkel Fritz war schon tot. Und die Russen hatten nicht nur Vater mitgenommen, sondern auch Heinz, der also auch aus dem Blickfeld verschwand.

Er war also nicht dabei, als ich vom Werder erzählte. Ich wunderte mich schon am Anfang, wie wenig er als "Tatkraft" in meinem "Kanu" paddelte. Meistens waren es ja Hans und Mutter, die mir, nebst meiner Wenigkeit, einen tätigen Eindruck hinterließen.

Da sind noch ein paar andere Dinge, die Hans, der doch vier Jahre älter als ich ist, in der Erinnerung anders sieht. Wir werden uns nicht lange aufregen. Wenn ich mit meinem Kanu in dem sicheren Hafen der Gegenwart eingetroffen bin, werde ich Hans' klärende Replik beifügen. Bis dahin, und das kann noch eine ganze Weile dauern, werde ich sie unter die Ruderbank stecken und unbetört meinen vielleicht gelegentlich fehlerhaften Erinnerungen folgen.

Die Taue sind losgeworfen, das Wasser gurgelt, das Paddel lässt mich an den Gedankenfluss teilhaben. – Vielleicht könnt ihr verstehen, was ich da so sage?! Ich habe keine Ahnung, nur, es klingt gut, so wie das Rauschen des Flusses.

Kreide! Ja, Kreide war nötig und kostbar. Es ward beschlossen, dass die F. und Tante Erna Langfuhr verlassen, um zu Tante Lotte Gerlach nach Oliva zu wandern und sie dort hoffentlich auch anzutreffen. Danzig brannte immer noch und ließ kaum Überlebensmöglichkeiten. Wir packten so viel wir konnten in den Kinderwagen. Eckardt zu unterst mit einem Stück Gartenschlauch im Mund, um nicht zu ersticken. Jeder trug, was er tragen konnte, und ja, da war die Kreide wichtig. Es hatte sich schnell herausgestellt und verbreitet, dass nicht nur der Kohlenklau die Hauswände des "Tausendjährigen Reiches" die Hauswand verschandeln durfte. Nein, Hauswände mutierten generell zu Litwasäulen. Die Menschen schrieben für die Angehörigen Nachrichten an Hauswände, wohin sie gegangen seien, und wo sie vielleicht gefunden werden könnten.

So auch wir. Vater und Heinz waren ja vermisst und Oma und Opa Müller noch in ihrer Wohnung, ohne von unserem Abmarsch zu wissen. "F-familie auf dem Marsch zu Lotte in Oliva!!" muss da wohl an die Wand mit Kreide geschrieben gewesen sein.

Das waren ungefähr 15 km, die wir zu bewältigen hatten. Wir waren nicht alleine, denn der Brand von Danzig trieb so fast alle Leutchen auf den Weg in die Dörfer.

So puckelten wir so dahin. Schlecht und recht. Neben dem Gepäck hatte wohl jeder den nicht unbedeutenden "Affen der Angst" auf den Schultern. Das war ganz und gar nicht unberechtigt. Denn kurz vor Oliva befand sich auf der linken Seite ein langes, gelbliches, einstöckiges Haus, und in dieses wurden die von den Russen ausgesiebten Jungen von "guter" Größe hineingetrieben.

Ein furchtbarer Schock für alle, die auf der Strasse waren. Hans, Ernst, und noch ein anderer Junge, den Hans näher kannte, waren auch dabei. Sie verschwanden einfach in des Hauses Maul. Alles ging ganz schnell – und hinterließ uns fassungslos. Mutter und der, nein, nicht klägliche, doch klagende Rest stand vorm Haus und Mutter rief nach Hans. Er solle doch ans Fenster kommen.

Das tat Hans denn auch an einem Fenster im Obergeschoss. Mutter ließ ihn seinen Rucksack aus dem Fenster schmeißen, denn der war voll mit Baby Eckardts Windeln und wer weiß was noch.

Wir konnten dort nicht herumhängen. Die Russen trieben uns weg. Mutter erzählte später noch öfter, und auch ich erinnere mich daran, dass ich heulend den Kinderwagen mit ihr die Straße entlang schob und ihr immer wieder beteuerte, dass ich jetzt ihr "Ältester" sei und ich für sie und alle sorgen und sie beschützen würde. – Ich betone, dass ich damals noch kein "Aufschneider" war, und ernsthaft meinte, was ich da so heulte.

Wir – Tante Erna und der kleine Rest unserer Familie – gelangten also bei Tante Lotte an. Sie war auch noch in ihrer recht großen Wohnung. Sie, ihre zwei Töchter und der neunjährige Sohn. Gisela war etwas älter als ich. An die zweite Tochter kann ich mich nun gar nicht erinnern. An den Sohn auch nicht. Ich weiß nur von Hans von den Beiden. Wir begannen nun dort zusammen zu leben.

Nach kurzer Zeit kamen auch Hans und Ernst nebst Hans' Freund zu uns. Die Russen waren mit der Masse an Gefangenen in Sechserreihen in irgendeine Richtung marschiert. An einer Straßenbiegung waren die drei unbemerkt in eine Seitengasse verschwanden und hatten sich auf Umwegen zu uns durchgeschlagen.

Heinz, noch 15 Jahre alt, fand endlich auch wieder zu uns. Er war auf seinem Weg zu uns elfmal gefangen genommen worden und wieder ausgebüxt, bevor er uns gefunden hatte. Nur Vater fehlte noch, und dabei blieb es bis heute.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir dort in Oliva alle zusammen wohnten. Unsere Raubzüge durch die leerstehenden Häuser wurden zur täglichen Pflicht. Es gab einfach keine andere Möglichkeit, sich am Leben zu erhalten. Alle, auch die Russen und die "befreiten" Polen nagten am gleichen Hungertuch und nahmen, wo immer und was immer sie konnten.

Es gab keine ordnende Autorität und keine Richtung. Ganz spannend eigentlich und sehr Charakter bildend. Verlieren konnte man diesen ja nicht, nur ein wenig zerquetschen und geschmeidig machen.

Eines, an das ich mich aus der Zeit in Lottes Wohnung erinnere, war ganz furchtbar. Mutter war mit Hans, Ernst und mir in der Küche. Mutter stand in der Nähe des Herdes. Wir anderen hockten um einen Topf mit alten Kartoffeln, die wir gefunden hatten und gerade entkeimten. Hans hatte zusammen mit den Kartoffeln im Keller auch einen "Dynamo" gefunden – dachten wir. Er fummelte damit herum, und wirklich, da entstand ein Funken. Mutter sah es und schrie "Schmeiß es raus!!!!" Das Fenster war geschlossen. So warf Hans das Ding durch die offene Küchentür in den Wohnungsflur. Von diesem führten wenigsten vier Türen in die verschiedenen Zimmer. 

Gerade als Hans den "Dynamo" rausschmiss trat von gegenüber kommend Tante Lotte in den Flur. Die Eierhandgranate explodierte genau vor ihr. Sie fiel um und sagte kaum noch etwas – glaube ich. Es war entsetzlich.

Meiner Erinnerung sagt mir, dass eine Zimmertür ausgehängt wurde. Tante Lotte, die recht zierlich war, wurde daraufgelegt und Mutter, Heinz, Ernst und Hans machten sich mit ihr auf den vier Kilometer langen Weg zum – nun – polnischen Krankenhaus.

Das ganze passierte am Vormittag. Ich weiß nicht wie lange es dauerte bis sie dort ankamen. Jedenfalls war es dem polnischen Doktor wohl noch viel zu früh. Er war wohl sehr gut und sehr beschäftigt, sah er doch erst nach seinen polnischen Kunden. Erst spät am Nachmittag kam er zu Tante Lotte. Er hatte keine Narkosemittel mehr und operierte ohne Betäubung, jedoch sehr gekonnt. 28 Splitter hatte sie abbekommen. Die meisten konnte er entfernen. Doch weiß ich mit Gewissheit, dass ihr ein Splitter ganz dicht an der Nase und dem Auge blieb und mit ihr zu Grabe ging – ich weiß nicht wann.

Das ist alles, was für mich an Erinnerungswertem in dieser Wohnung geschah. Auf der Suche nach Futter zogen wir bald aus und in andere vielversprechende Häuser.

Da ist noch eine kleine Menge zu erzählen. Sprunghaft wird es seien müssen, denn die ganze Zeit war doch ein bisschen wie durchgequirlte Sch… – doch sehr bildungsreich.

An dieser kleinen Landzunge will ich mein Kanu an Land ziehen und wenigstens eine Mittagspause machen. Es ist übrigens der 06.10.2008. Leicht bedeckter Himmel und ziemlich mollig ….