Lebensberichte und Familienchroniken

Gottfried F.

Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten

29.09.2008

 

 

Nana Glen, Australien

Danzig nach dem Krieg …

… ungefähr von Januar 1945 bis fast zum Ende des Jahres (glaube ich).

Da waren wir also erstmal wieder oben in Omas Wohnung. Ich weiß nicht mehr, wer da alles war. Oma und Opa bestimmt. So auch unsere ganze F.-Familie ohne Vater, und ganz gewiss Tante Erna, ohne Onkel Fritz, den die Russen ja auch mitgenommen hatten.

Die Lage muss doch recht verzweifelt gewesen sein. Keiner wusste irgendetwas. Jeder lebte schlecht und mehr versteckt als sichtbar. Danzig und alle Orte in der Umgebung waren ziemlich entvölkert, da die Mehrheit der Menschen ins "Reich" geflohen war. In den ersten Tagen rührte sich kaum einer von uns. Alle warteten auf unsere Männer und was wohl geschehen werde.

Nichts geschah. Kein Mann kam wieder. Dann verbreitete sich irgendwie das Gerücht, dass die Russen auf einem Hafengelände alle gefangenen Männer hinter hohen Drahtzäunen zusammengetrieben hätten. Das war dann auch so.

Irma Ella, unsere Mutter, zog mit ihren Söhnen hin zum Lager und am Zaun entlang in der Hoffnung, Vater zu erblicken. Ich war ganz gewiss mit von der Partie, denn ich fühle noch heute das Absterben der Finger vom Klammern an den Zaun sowie den Siebabdruck im Gesicht, so sehr pressten wir uns dagegen. Die Männer waren aber wenigstens 80 Meter vom Zaun entfernt und wurden von Russen zurückgehalten. Sie fluteten von einem Ende des Geländes zum anderen, fast immer in Bewegung. Sie versuchten mit den Leuten auf unserer Seite Kontakt zu bekommen.

Da waren ja nicht nur wir auf der Suche. Viele fremde Gesichter pressten sich in den Zaun. Alle suchten ihre Lieben.

Die Russen hatten alle Männer, die sie fanden, gefangen genommen.

Wir kehrten Tag für Tag zurück an den Zaun, immer hoffend, Vater zu sehen, zu erkennen. Oft dachten wir, ihn zu sehen. Dann winkten wir und riefen wohl auch, doch hatten wir niemals Erfolg.

Wir haben Vater nie wieder gesehen. Jahre später erfuhren wir, dass er noch im gleichen Jahr in einem russischen Gefangenenlager hinter dem Ural an der "Ruhr" gestorben war, so wie hunderte andere Gefangene.

Unser Hausarzt, Dr. Gums, war einer der Wenigen, die je zurückkamen. Er berichtete, dass er dabei war, als Vater starb. Das ist es, was ich davon nach langen Jahren erzählt bekam.

Wir lebten also, ich weiß nicht wie lange, alle in Omchens Wohnung. Ich entsinne mich nicht, dass wir noch irgendwie belästigt wurden. Die Russen hatten schon alles mitgenommen, was sie haben wollten.

Niemand hatte und wollte Verantwortung, keine Regierung, keine Polizei, kein gar nichts.

Die Häuser standen fast alle leer und verlassen. Mutter war ja noch recht jung und ihre Kinder auch. Eckardt war noch kein Jahr alt und lebte in dem einen Kinderwagen, den wir behalten konnten.

Dieser Kinderwagen wurde für uns alle von überlebenswichtiger Bedeutung. War er doch das einzige Gefährt, mit dem wir auf Beute gehen konnten, um selbige verdeckt darin heim zu schmuggeln.

Mutter zog los mit ihren vier ältesten Jungs stolz kann ich berichten, dass ich auch einer davon war, der Jüngste.

Direkt hinter Omas Haus begann das "Danziger Werder", eine flache Tiefebene die Onkel Horst Rudolf ja schon so wunderbar geschildert hat wohl die "Kornkammer" Polens und auch Deutschlands, gegen die Weichsel und die Motlau durch Deiche abgesichert.

Diese Deiche hatten die deutschen Soldaten im Rahmen der Politik der "Verbrannten Erde" während des Rückzugs gesprengt. Das Werder stand unter Wasser. Nicht sehr tief, man konnte hindurchwaten, und die Landstrasse war auch ein bisschen höher aufgeworfen. Auch die meisten Bauernhöfe standen auf Warften von ungefähr eineinhalb Meter Höhe, denn die Gefahr eines Deichbruches war ja auch in normalen Zeiten nicht auszuschließen.

Es war nun dieses Werder, das Mutter mit ihrer kleinen "Armee" und dem Kinderwagen zu durchziehen begann, um aufstöbern, was immer da Essbares für unsere Gemeinschaft zu ergattern war.

Zu Hause sorgte Tante Erna für die Küche und Kocherei, wenn da etwas zu kochen war. Auch sorgte sie mit Omchen für Opa, der damals schon fast bewegungsunfähig in seinem schweren Eichenstuhl saß, sowie für Christiane, Gudrun und Baby Eckardt. Vielleicht auch noch für ein paar mehr Familienmitglieder. Ich weiß nicht mehr, wie viele wir in der Zeit beisammen waren. Ein ziemlicher Haufen.

Unser kleiner Beutetrupp zog also am Morgen mit Gesang ins Werder, um sein Glück zu versuchen. Oft hatten wir es geschafft. Wir kehrten heim mit vier, fünf, sechs lumpigen Kartoffeln, vielleicht einem Kohlkopf oder einer Runkelrübe. Oder mit irgendetwas anderes Essbares. Das waren aufregende Entdeckungsreisen, und ich möchte sie nicht in meiner Erinnerung missen.

Viel totes, aufgedunsenes Vieh lag im Wasser. Auf kleinen Landinseln überlebten noch manche Pferde, auch Schafe und Ziegen. Doch diese verschwanden recht bald in den Mägen der Russen und derer, die sich aufs Schlachten verstanden. Wir waren mehr auf Gemüse und Kartoffeln angewiesen.

Einmal kam uns ein jüngerer Mann entgegen, der ganz freudig an einer rohen Kartoffel knabberte jeder wie er kann und konnte. Grosse Auswahl gab es da nicht.

Ein anderes Mal kamen wir an einem toten Soldaten vorbei. Er war noch nicht sehr lange tot. Sein Tornister lag neben ihm. So öffneten wir diesen und fanden darin eine Speckseite, die wir bedauernd freudig mitgehen ließen. Man konnte nicht aufs Glück warten, man musste es schon irgendwie erzwingen.

Hier fällt mir gerade etwas ein, was Mutter mir erzählt hat, und das mir große Freude bereitete. Mag ich es vielleicht wieder vergessen (alter Esel, der ich bin):  Es war noch in der Zoppoter Zeit. Ich war wohl schon in der Schule, jedoch nur am Anfang. Da saßen also schon alle am Mittagstisch, nur ich bummelte noch herein und sprach voller Poesie "Ich ging gerade durch die Küche, und ich riechte, wonach es rochte, und es rach nach Blumenkohl!"

Das gefällt mir ganz ungemein, könnte es heute aber nicht mehr glaubwürdig sagen, denn leider habe ich, wie Mutter im höheren Alter auch, meinen Geruchs- und Geschmackssinn weitgehend eingebüsst. Die Freude am Essen hat also mehr oder weniger aus der Erinnerung zu zehren. Wein erfreut jedoch noch immer Körper und den verbleibenden Geist. Prost!!

Also, die Speckseite hat eine andere Tür aufgestoßen, und so will ich denn versuchen, alle meine Schweinereien auf einmal zu bewältigen und abzuladen.

Irgendwann, früh wahrend des Krieges, wurden Mutter und ich, vielleicht auch noch andere Geschwister, aufs Land geschickt, zur Erholung oder was auch immer, ich erinnere das nicht. Jedenfalls waren wir auf einem großen Bauernhof, so einen, wie Onkel Horst Rudolf und ich auch schon irgendwo beschrieben haben. Da wurde ein Schwein geschlachtet, und das will ich euch beschreiben. 

Zuerst aber muss ich berichten, wie so ein Schweinestall aussah. Wie ihr schon wisst, bestand der Bauernhof aus verschiedenen Gebäuden, die einen großen Innenhof umschlossen. Der Schweinestall lag im rechten Winkel zum Herrenhaus, ein langes, niedriges Gebäude. Darin waren in langen Reihen die Schweinekofen, links und rechts, viele davon. Jedes Schwein hatte seinen eigenen Kofen mit Stroh, Wasser und zum Fressen einen Trog, ähnlich der Kartoffelkiste, die ich in Zoppot beschrieben habe. Man warf das Futter außen in den Trog, und das Schwein erreichte es über die kofenseitige Hälfte des Troges. So war das Füttern sehr einfach, da man nicht in den Kofen hinein gehen musste. Der Gang in der Mitte hatte vielleicht eine Breite von eineinhalb Metern, aber ich sage euch, die Schweine waren zwei Meter lang und riesig. Es war ihnen auch ganz leicht möglich, sich auf den Hinterbeinen aufzurichten, die Vorderbeine auf der Frontwand aufgestützt, und die mächtigen Köpfe mit riesigen Mäulern dir ins furchtverzerrte Gesicht zu wedeln.

Das waren die Ställe. Am Ende des Gebäudes, zum Hofplatz hin, befand sich eine große Lücke und nun kommt die ganze Schweineschlachtgeschichte auf’s Tablett.

Es war früh am Morgen. Fremde Leute kamen zu Besuch. Schlachttag. Ich wusste sicher nicht, was das bedeutete und wurde auch bald verscheucht. Doch sah ich das gesamte Geschehen von einer Ecke des Hofes aus, und als es halb vorbei war, nahm keiner daran Anstoß, dass ich mich untermingelte und viel erfuhr.

Zuerst erfolgte die Öffnung der Lücke zum Hof, woraufhin eine riesige Sau aus dem Stall herauskam. An einem Hinterbein war ein langes Tau gebunden. Die Sau zog das Tau hinter sich her in den Hof hinein. Das Ende des Taus wurde dann von jemandem aufgelesen und straff gezogen. Der Jemand nahm seinen Platz in der Mitte des Hofes ein, und all die Gäste begannen. die riesige Sau mit Schlägen und Geschrei im Kreis auf dem Hof herumzuhetzen. Der Mann mit dem Seil zog wieder und wieder am Seil, so dass das Schwein stolperte, nach einigen Runden ganz furchtbar abgehetzt war und zunehmend unglücklich wurde.

Das Ganze dauerte recht lange. Doch endlich war das Schwein erschöpft und schwitzte wie eine Sau. Da war dann eine große Badewanne mit einer Holzleiter der Länge nach darauf gelegt. Dort wurde das Schwein mit Hilfe der helfenden Gäste überwältigt. Die Beine gefesselt wurde es auf die Leiter gewuchtet und alle Gäste fassten an, um es dort zu halten. Dann kam der Bauer mit einem Dolch mit einem Messinggriff und stach dem Schwein in die Kehle. Das Blut schoss heraus, doch standen schon Frauen mit Schüsseln bereit, es aufzufangen und umzurühren. Eine nach der anderen. Jeder Blutspritzer wurde aufgefangen, und das Schwein schrie und zappelte, doch vier oder fünf Männer hielten es nieder. Als es endlich erschöpft war, schlugen sie es, um es ganz auszubluten. Das war, wie ich heute weiß, auch der Grund dafür, es vorher im Hof herum zu hetzen, damit es wirklich warm und gut durchblutet war. Das aufgefangene Blut wurde sofort zu Blutwurst verarbeitet, deren Genuss ich mir seitdem verbot. Ich mag sie nicht einmal versuchen. Jeder preist sie als göttlich. Wahr mag dies sein, doch ich bleibe in diesem Fall ignorant.

Ja und dann, nachdem das Schwein eingesehen hatte, dass das Schweinehimmelreich der einzige Ausweg war, den es erwählen konnte, wurden Unmengen von kochendem Wasser herbeigeschafft, das Schwein damit über und über abgebrüht und die Borsten mit Kuhglocken ähnlichen Instrumenten abgeschabt. Eine langwierige und harte Arbeit. In diesen Tagen würde ich sagen, warum die Borsten nicht einfach absengen, doch ich bin kein Bauer, und damals war ich wohl zu erstarrt, um an irgendetwas aktiv Teil zu nehmen. Doch gesehen habe ich alles. 

Eines noch: Ich fand ein großes graues, raues Ziegenhorn und durfte es behalten. Mit ihm behielt ich auch die Erinnerung des ganzen Geschehens dieses Tages. Es erstaunt mich, mit welcher Klarheit ich es vor mir sehe, nun, da ich darüber berichte. Selbst die Hofgebäude, der Misthaufen und alles und alles. Ich könnte es aufzeichnen. Ist das nicht unheimlich, was sich da so verborgen speichert und die Gegenwart belauert?!

Für heute ist's genug. Wo die Geschichten enden, weiß ich jetzt noch nicht. Ich werde wohl ein wenig sprunghaft werden, doch kann ich das nicht vermeiden, denn die Gedanken tauchen so überraschend und unvorhergesehen auf, und dann denke ich, lieber spucke sie aus, bevor sie verschwinden und vielleicht für immer.