Nana Glen, Australien
Danzig nach dem Krieg …
… ungefähr
von Januar 1945 bis fast zum Ende des Jahres (glaube ich).
Da waren
wir also erstmal wieder oben in Omas Wohnung. Ich weiß nicht mehr, wer
da alles war. Oma und Opa bestimmt. So auch unsere ganze F.-Familie
ohne Vater, und ganz gewiss Tante Erna, ohne Onkel Fritz, den die Russen
ja auch mitgenommen hatten.
Die Lage
muss doch recht verzweifelt gewesen sein. Keiner wusste irgendetwas.
Jeder lebte schlecht und mehr versteckt als sichtbar. Danzig und alle
Orte in der Umgebung waren ziemlich entvölkert, da die Mehrheit der
Menschen ins "Reich" geflohen war. In den ersten Tagen rührte sich kaum
einer von uns. Alle warteten auf unsere Männer und was wohl geschehen
werde.
Nichts
geschah. Kein Mann kam wieder. Dann verbreitete sich irgendwie das
Gerücht, dass die Russen auf einem Hafengelände alle gefangenen Männer
hinter hohen Drahtzäunen zusammengetrieben hätten. Das war dann auch so.
Irma Ella,
unsere Mutter, zog mit ihren Söhnen hin zum Lager und am Zaun entlang in
der Hoffnung, Vater zu erblicken. Ich war ganz gewiss mit von der
Partie, denn ich fühle noch heute das Absterben der Finger vom Klammern
an den Zaun sowie den Siebabdruck im Gesicht, so sehr pressten wir uns
dagegen. Die Männer waren aber wenigstens 80 Meter vom Zaun entfernt und
wurden von Russen zurückgehalten. Sie fluteten von einem Ende des
Geländes zum anderen, fast immer in Bewegung. Sie versuchten mit den
Leuten auf unserer Seite Kontakt zu bekommen.
Da waren
ja nicht nur wir auf der Suche. Viele fremde Gesichter pressten sich in
den Zaun. Alle suchten ihre Lieben.
Die Russen
hatten alle Männer, die sie fanden, gefangen genommen.
Wir
kehrten Tag für Tag zurück an den Zaun, immer hoffend, Vater zu sehen,
zu erkennen. Oft dachten wir, ihn zu sehen. Dann winkten wir und riefen
wohl auch, doch hatten wir niemals Erfolg.
Wir haben
Vater nie wieder gesehen. Jahre später erfuhren wir, dass er noch im
gleichen Jahr in einem russischen Gefangenenlager hinter dem Ural an der
"Ruhr" gestorben war, so wie hunderte andere Gefangene.
Unser
Hausarzt, Dr. Gums, war einer der Wenigen, die je zurückkamen. Er
berichtete, dass er dabei war, als Vater starb.
– Das ist es, was ich
davon nach langen Jahren erzählt bekam.
Wir lebten
also, ich weiß nicht wie lange, alle in Omchens Wohnung. Ich entsinne
mich nicht, dass wir noch irgendwie belästigt wurden. Die Russen hatten
schon alles mitgenommen, was sie haben wollten.
Niemand
hatte und wollte Verantwortung, keine Regierung, keine Polizei, kein gar
nichts.
Die Häuser
standen fast alle leer und verlassen. Mutter war ja noch recht jung und
ihre Kinder auch. Eckardt war noch kein Jahr alt und lebte in dem einen
Kinderwagen, den wir behalten konnten.
Dieser
Kinderwagen wurde für uns alle von überlebenswichtiger Bedeutung. War er
doch das einzige Gefährt, mit dem wir auf Beute gehen konnten, um
selbige verdeckt darin heim zu schmuggeln.
Mutter zog
los mit ihren vier ältesten Jungs
– stolz kann ich
berichten, dass ich auch einer davon war, der Jüngste.
Direkt
hinter Omas Haus begann das "Danziger Werder", eine flache Tiefebene
– die Onkel Horst
Rudolf ja schon so wunderbar geschildert hat – wohl die
"Kornkammer" Polens und auch Deutschlands, gegen die Weichsel und die Motlau durch Deiche abgesichert.
Diese
Deiche hatten die deutschen Soldaten im Rahmen der Politik der
"Verbrannten Erde" während des Rückzugs gesprengt. Das Werder stand
unter Wasser. Nicht sehr tief, man konnte hindurchwaten, und die
Landstrasse war auch ein bisschen höher aufgeworfen. Auch die meisten
Bauernhöfe standen auf Warften von ungefähr eineinhalb Meter Höhe, denn
die Gefahr eines Deichbruches war ja auch in normalen Zeiten nicht
auszuschließen.
Es war nun
dieses Werder, das Mutter mit ihrer kleinen "Armee" und dem Kinderwagen
zu durchziehen begann, um aufstöbern, was immer da Essbares für unsere
Gemeinschaft zu ergattern war.
Zu Hause
sorgte Tante Erna für die Küche und Kocherei, wenn da etwas zu kochen
war. Auch sorgte sie mit Omchen für Opa, der damals schon fast
bewegungsunfähig in seinem schweren Eichenstuhl saß, sowie für
Christiane,
Gudrun und Baby Eckardt. Vielleicht auch noch für ein paar mehr
Familienmitglieder. Ich weiß nicht mehr, wie viele wir in der Zeit
beisammen waren. Ein ziemlicher Haufen.
Unser
kleiner Beutetrupp zog also am Morgen mit Gesang ins Werder, um sein
Glück zu versuchen. Oft hatten wir es geschafft. Wir kehrten heim mit
vier, fünf, sechs lumpigen Kartoffeln, vielleicht einem Kohlkopf oder
einer Runkelrübe. Oder mit irgendetwas anderes Essbares. Das waren
aufregende Entdeckungsreisen, und ich möchte sie nicht in meiner
Erinnerung missen.
Viel
totes, aufgedunsenes Vieh lag im Wasser. Auf kleinen Landinseln
überlebten noch manche Pferde, auch Schafe und Ziegen. Doch diese
verschwanden recht bald in den Mägen der Russen und derer, die sich aufs
Schlachten verstanden. Wir waren mehr auf Gemüse und Kartoffeln
angewiesen.
Einmal kam
uns ein jüngerer Mann entgegen, der ganz freudig an einer rohen
Kartoffel knabberte –
jeder wie er kann und konnte. Grosse Auswahl gab es da nicht.
Ein
anderes Mal kamen wir an einem toten Soldaten vorbei. Er war noch nicht
sehr lange tot. Sein Tornister lag neben ihm. So öffneten wir diesen und
fanden darin eine Speckseite, die wir bedauernd freudig mitgehen ließen.
Man konnte nicht aufs Glück warten, man musste es schon irgendwie
erzwingen.
Hier fällt
mir gerade etwas ein, was Mutter mir erzählt hat, und das mir große
Freude bereitete. Mag ich es vielleicht wieder vergessen (alter Esel,
der ich bin): Es war noch in der Zoppoter Zeit. Ich war wohl schon in
der Schule, jedoch nur am Anfang. Da saßen also schon alle am
Mittagstisch, nur ich bummelte noch herein und sprach voller Poesie "Ich
ging gerade durch die Küche, und ich riechte, wonach es rochte, und es
rach nach Blumenkohl!"
Das
gefällt mir ganz ungemein, könnte es heute aber nicht mehr glaubwürdig
sagen, denn leider habe ich, wie Mutter im höheren Alter auch, meinen
Geruchs- und Geschmackssinn weitgehend eingebüsst. Die Freude am Essen
hat also mehr oder weniger aus der Erinnerung zu zehren. Wein erfreut
jedoch noch immer Körper und den verbleibenden Geist. Prost!!
Also, die
Speckseite hat eine andere Tür aufgestoßen, und so will ich denn
versuchen, alle meine Schweinereien auf einmal zu bewältigen und
abzuladen.
Irgendwann, früh wahrend des Krieges, wurden Mutter und ich, vielleicht
auch noch andere Geschwister, aufs Land geschickt, zur Erholung oder was
auch immer, ich erinnere das nicht. Jedenfalls waren wir auf einem
großen Bauernhof, so einen, wie Onkel Horst Rudolf und ich auch schon irgendwo
beschrieben haben. Da wurde ein Schwein geschlachtet, und das will ich
euch beschreiben.
Zuerst
aber muss ich berichten, wie so ein Schweinestall aussah. Wie ihr schon
wisst, bestand der Bauernhof aus verschiedenen Gebäuden, die einen
großen Innenhof umschlossen. Der Schweinestall lag im rechten Winkel zum
Herrenhaus, ein langes, niedriges Gebäude. Darin waren in langen Reihen
die Schweinekofen, links und rechts, viele davon. Jedes Schwein hatte
seinen eigenen Kofen mit Stroh, Wasser und zum Fressen einen Trog,
ähnlich der Kartoffelkiste, die ich in Zoppot beschrieben habe. Man warf
das Futter außen in den Trog, und das Schwein erreichte es über die
kofenseitige Hälfte des Troges. So war das Füttern sehr einfach, da man
nicht in den Kofen hinein gehen musste. Der Gang in der Mitte hatte
vielleicht eine Breite von eineinhalb Metern, aber ich sage euch, die
Schweine waren zwei Meter lang und riesig. Es war ihnen auch ganz leicht
möglich, sich auf den Hinterbeinen aufzurichten, die Vorderbeine auf der
Frontwand aufgestützt, und die mächtigen Köpfe mit riesigen Mäulern dir
ins furchtverzerrte Gesicht zu wedeln.
Das waren
die Ställe. Am Ende des Gebäudes, zum Hofplatz hin, befand sich eine
große Lücke – und nun
kommt die ganze Schweineschlachtgeschichte auf’s Tablett.
Es war
früh am Morgen. Fremde Leute kamen zu Besuch. Schlachttag. Ich wusste
sicher nicht, was das bedeutete und wurde auch bald verscheucht. Doch
sah ich das gesamte Geschehen von einer Ecke des Hofes aus, und als es
halb vorbei war, nahm keiner daran Anstoß, dass ich mich untermingelte
und viel erfuhr.
Zuerst
erfolgte die Öffnung der Lücke zum Hof, woraufhin eine riesige Sau aus
dem Stall herauskam. An einem Hinterbein war ein langes Tau gebunden.
Die Sau zog das Tau hinter sich her in den Hof hinein. Das Ende des Taus
wurde dann von jemandem aufgelesen und straff gezogen. Der Jemand nahm
seinen Platz in der Mitte des Hofes ein, und all die Gäste begannen. die
riesige Sau mit Schlägen und Geschrei im Kreis auf dem Hof
herumzuhetzen. Der Mann mit dem Seil zog wieder und wieder am Seil, so
dass das Schwein stolperte, nach einigen Runden ganz furchtbar abgehetzt
war und zunehmend unglücklich wurde.
Das Ganze
dauerte recht lange. Doch endlich war das Schwein erschöpft und
schwitzte wie eine Sau. Da war dann eine große Badewanne mit einer
Holzleiter der Länge nach darauf gelegt. Dort wurde das Schwein mit
Hilfe der helfenden Gäste überwältigt. Die Beine gefesselt wurde es auf
die Leiter gewuchtet und alle Gäste fassten an, um es dort zu halten.
Dann kam der Bauer mit einem Dolch mit einem Messinggriff und stach dem
Schwein in die Kehle. Das Blut schoss heraus, doch standen schon Frauen
mit Schüsseln bereit, es aufzufangen und umzurühren. Eine nach der
anderen. Jeder Blutspritzer wurde aufgefangen, und das Schwein schrie
und zappelte, doch vier oder fünf Männer hielten es nieder. Als es
endlich erschöpft war, schlugen sie es, um es ganz auszubluten. Das war,
wie ich heute weiß, auch der Grund dafür, es vorher im Hof herum zu
hetzen, damit es wirklich warm und gut durchblutet war. Das aufgefangene
Blut wurde sofort zu Blutwurst verarbeitet, deren Genuss ich mir seitdem
verbot. Ich mag sie nicht einmal versuchen. Jeder preist sie als
göttlich. Wahr mag dies sein, doch ich bleibe in diesem Fall ignorant.
Ja und
dann, nachdem das Schwein eingesehen hatte, dass das Schweinehimmelreich
der einzige Ausweg war, den es erwählen konnte, wurden Unmengen von
kochendem Wasser herbeigeschafft, das Schwein damit über und über
abgebrüht und die Borsten mit Kuhglocken ähnlichen Instrumenten
abgeschabt. Eine langwierige und harte Arbeit. In diesen Tagen würde ich
sagen, warum die Borsten nicht einfach absengen, doch ich bin kein
Bauer, und damals war ich wohl zu erstarrt, um an irgendetwas aktiv Teil
zu nehmen. Doch gesehen habe ich alles.
Eines
noch: Ich fand ein
großes graues, raues Ziegenhorn und durfte es behalten. Mit ihm behielt
ich auch die Erinnerung des ganzen Geschehens dieses Tages. Es erstaunt
mich, mit welcher Klarheit ich es vor mir sehe, nun, da ich darüber
berichte. Selbst die Hofgebäude, der Misthaufen und alles und alles. Ich
könnte es aufzeichnen. Ist das nicht unheimlich, was sich da so
verborgen speichert und die Gegenwart belauert?!
Für heute
ist's genug. Wo die Geschichten enden, weiß ich jetzt noch nicht. Ich
werde wohl ein wenig sprunghaft werden, doch kann ich das nicht
vermeiden, denn die Gedanken tauchen so überraschend und unvorhergesehen
auf, und dann denke ich, lieber spucke sie aus, bevor sie verschwinden
und vielleicht für immer. |
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