Lebensberichte und Familienchroniken
Gottfried F.
Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten
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16.09.2008
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Nana Glen, Australien
Das Ende des Krieges
Ich werde
mich nun in das Ende des Krieges stürzen. Da erhebt sich sofort ein
Problem, das ich beschreiben und möglichst beheben will.
Das
Problem: Der Krieg endete, doch eigentlich tat er das nicht. Es fällt mir
schwer –
und das wird anhalten
– eine
chronologische Folge des Geschehens aufrecht zu halten. Das ganze Jahr
1945 und danach erscheint mir wie ein großes Schlüsselbrett. Mit vielen
Haken und Schlüsseln, an keinem jedoch eine dazugehörige Nummern. All
diese Schlüssel wurden durch Zufall auf dem Boden aufgelesen und einfach
an irgendeinen Haken gehängt.
Es wird
mir unmöglich sein, sie alle wieder in die richtige Ordnung zu bringen.
So bitte
ich also, sich eine Sonnenblume ohne die Blätter vorzustellen. Da ist
das runde Samenkissen mit vielen, vielen Sonnenblumenkernen am kahlen
Stängel. Diese Kerne sehe ich nun als Erinnerungskapseln an. Wie ein
blinder Papagei werde ich also darüber hin- und herfliegen und es dem
Glück und Zufall überlassen, was da so aus den einzelnen Kernen
herausspringt.
Es wird
also ein Gewebe vieler Gegebenheiten sein, die aus dem selben Topf
kommen, doch nicht in genauer Zeitfolge in Selbigen hineingepurzelt
sind. Ich werde mir jedoch Muhe geben, so hart wie möglich "am Wind" zu
segeln.
So! Nach
all dem fällt mir nun kaum etwas ein…
Es war
eine Zeit ohne Uhr, ohne Kalender, ohne elektrischen Strom, keine
Geschäfte, keine Regierung, kein Vorrat an Lebensmitteln, keine Hilfe =
"Hilf dir selbst, so hilft dir Gott", wie es so schön heißt. Der machte
sicher, dass wir alle eine reiche Ladung Angst im Hals und im Herzen
hatten und eine ungeheure Menge wegen einfach gar nichts.
– Doch wir
lebten irgendwie. Ich will nicht undankbar sein.
Ich will
hier schon einmal ganz deutlich und klar gestehen, das die kommenden
drei, vier, fünf Jahre mit all ihrem Geschehen, den größten,
umfassendsten und glücklichsten Einfluss auf mein Leben ausgeübt haben;
mir gegeben haben, was ich heute bin. Nie hat mich der gewisse Geist,
der da gespukt hat, ganz verlassen, und er gibt mir noch immer eine
positive Zuversicht, ich bin sicher, bis zum Tod.
(Ich hatte
neulich Gelegenheit, mit Hans darüber zu sprechen. Es überraschte mich
kein bisschen, dass er ganz ähnliche Gedanken darüber hegt. Auch er ist
ein guter Bruder in " Waffen".)
Ich musste all dies ausspucken, doch nun
will ich anfangen, Sonnenblumenkerne zu knacken.
Es muss
Mitte Januar 1945 gewesen sein. Wir lebten also in Danzig in Oma und
Opa Müllers großem Mietshaus; meistens im großen, niedrigen Keller, zusammen
mit einer Menge anderer Hausbewohner.
Der Russe
rückte sehr rasch immer näher. Bomben fielen. Luftkämpfe fanden über der
Stadt statt. Ich weiß, dass Heinz, der ja schon eine Art Fähnleinführer
in der HJ war, mit anderen Halbstarken auf den Dachboden schlich und mit
Pistolen auf die Flieger schoss
– ohne zu
treffen.
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Ich habe
eine Stalinorgel orgeln gesehen, eine Deutsche, nicht fern von uns und
im Dunkeln. Es war ein großes Feuerwerk. Es sah aus wie ein riesige
Eisenfußabkratzer, der im steilen Winkel in den Himmel ragte, und aus
dem Raketen in schneller Folge mit glühendem Schweif in die Nacht
sausten. Herrlich und furchterregend anzusehen. Da waren so wenigstens
acht Schienen nebeneinander.
Wir lebten
schon im Keller (Luftschutzkeller), als draußen vor dem Haus eine Bombe
in die Straßenkreuzung einschlug. Es war keine gewaltige Bombe, doch der
Luftdruck schleuderte eine gerade vorbeigehende Frau zu Boden, und sie
schlidderte auf dem Gesicht etwa 20 Meter über die Strasse, wo sie
leblos und ganz ohne Gesicht an der Außenwand unseres Kellers liegen
blieb, und das für mehr als zwei Tage. Noch heute spüre ich die Angst
vor ihr, weil nur eine Wand mich von dem Grauen trennte. Sie hatte einen
graubraunen dicken Mantel an. Der halbe Kopf war auf der Strasse
abgerubbelt und hatte eine blutige Spur hinterlassen.
Es war
ungefähr Mitte Januar 1945, als Danzig doch recht beschossen wurde.
Häuser brannten. Die Luft war verpestet. Ich hatte am 2. Februar
Geburtstag.
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Stalinorgel = Katjuscha ist die
russische Bezeichnung für einen sowjetischen Mehrfachraketenwerfer, der
im Zweiten Weltkrieg entwickelt und eingesetzt wurde. Die Bezeichnung
geht auf das zu jener Zeit entstandene und bis heute bekannte Lied
Katjuscha zurück. Die Übersetzung des russischen Sammelbegriffs war
Gardewerfer, von deutscher Seite wurde die Waffe Stalinorgel genannt, da
die Anordnung der Raketen an eine Orgel erinnert und beim Abschuss ein
charakteristisches pfeifendes Geräusch erzeugt wurde.
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Es wurde
mein 10-ter. An dem Tag war ich berechtigt, der HJ beizutreten. Ich
hatte schon Koppel und Schloss (Blut und Ehre auf dem Bauch). Auch,
glaube ich, hatte ich schon Hemd und Hose. Da war eine kleine silberne
"Knallkorkenpistole", die ich stolz besaß.
Nur noch
zehn Tage, und ich wäre ein Hitlerpimpf geworden. Etwas, das ich so sehr
wünschte, denn meine drei älteren Brüder hatten mich schon seit Jahren
mit ihren Fahrten und Hitlerlagern und all dem Cowboyspielen neidisch
gemacht.
Der Krieg
tobte nun schon sehr stark über Danzig. Wir hörten und rochen es nun
ganz klar. Die Angst hing uns am Hals.
Wir lebten
jetzt ganz im Keller, doch ich weiß nicht mehr, wovon. Essen, meine ich.
– Vater
sah mich mit meiner Knallpistole fummeln. Er nahm sie mir rasch weg,
auch das Koppel, und packte alles zusammen mit seiner 08-Pistole in ein
Tuch und verschwand damit im Dunkeln. Wir hatten nur Kerzenlicht. So
weiß ich nicht, wo er hinging. Er kam ohne meine Sachen zurück und ich
will wohl geheult haben.
– Das
geschah zehn Tage vor meinem zehnten Geburtstag.
Und auf einmal war der Russe in der Stadt.
Ich weiß ganz genau, wie es für uns geschah: Wir waren außerhalb des
Hauses gerade nur mal so auf der Strasse. Da kam ein recht zerlumpter
Mann die Strasse entlang gehüpft, das Gewehr in der einen Hand und mit
der anderen wild fuchtelnd. Er war der erste Russe, den ich je sah. Er
lachte und winkte und rief wieder und wieder "Weuna kapuutt, Gitler kapuut, Gitler kapuut".
Wie die
Karnickel sausten wir zurück in den Keller. Der Krieg da draußen ging
dem Ende entgegen. Wir rührten uns nicht und hatten Angst.
Für ein
paar Tage geschah nichts. Überall Brandgeruch, auch süßlicher
Leichengeruch schlich sich ein.
Dann
jedoch wurde die Tür aufgerissen. Ein paar Russen kamen rein. UHRI –
UHRI war ihr Kriegsschrei. Sie nahmen alles mit was sie an Uhren,
Schmuck und Ringen finden konnten. Das war der erste Schub.
Der Zweite
war der Schlimmste. Die Russen kamen mit Taschenlampen, leuchteten in
alle Ecken und führten alle erwachsenen Männer raus. Vater stand in
unserer Mitte. Er hatte seinen schönen grauen Herrenmantel an, diesen
weinroten Seidenschal um den Hals. Er umarmte Mutter und steckte ihr
dabei seinen Ehering zu, umamte uns alle so schnell wie möglich. Er
musste mit all den anderen Männern rausgehen, auch der alte Onkel Fritz.
Opa Willi ließen sie zurück, denn der konnte ja nur noch in dem alten
Stuhl sitzen und zitternd vor sich hinstarren. Ich glaube, er bekam
nicht mehr ganz klar was geschah.
Nur eines
weiß ich noch von dem Ende der Kellerzeit: Wir wurden alle
herausgebracht. An jeder Seite der Tür stand ein Russe. Als wir
durchschlüpften hielt uns jeder von ihnen eine der bewussten
Reiterpistolen ins Gesicht. Jemand hielt mir schnell den Mund zu, um zu
verhindern, dass ich ihr Erkennen zeigen würde.
– Die
letzte Schlacht war damit wohl zu Ende.
Es war das
erste Mal nach langer Zeit, dass wir wieder ans Tageslicht kamen. Das
erste was ich sah, war ein aufgedunsener toter Schimmel, der gegenüber
an der Hauswand lag. Doch dann sahen wir so alle 50 bis 60 Meter
aufgehäufte Leichen, vier, fünf sechs oder so jeweils auf einen Haufen.
Die meisten hatten irgendwelche Uniformen an oder waren Briefträger oder
Hitlerjungen. Alle waren blauviolett angelaufen. Bis heute weiß ich
nicht, wie das kam.
Auch sah
ich eine Reihe von Bogenlaternen und auch Bäumen, von denen deutsche
Soldaten in Uniform hingen, mit Schildern um den Hals "Ich bin ein
Vaterlandsverräter!
– Ich bin
ein Feigling!" Grausige Hinterlassenschaft der SS wird das wohl gewesen
sein.
Viele,
viele Tote würde ich noch sehen. Für Wochen beherrschte der Gestank des
Feuers und der Verwesung das ganze Land.
Da war
keiner, der aufräumte oder die Toten bestattete, soweit ich mich ich
erinnere. Wir mussten uns sehr schnell daran gewöhnen.
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Heinz in HJ-Uniform
HJ = Die Hitlerjugend oder
Hitler-Jugend war die Jugend- und Nachwuchsorganisation der
Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Sie wurde in
der Zeit des Nationalsozialismus ab 1933 zum einzigen staatlichen
Jugendverband mit bis zu 8,7 Millionen Mitgliedern (98 Prozent aller
deutschen Jugendlichen) ausgebaut.
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Ich muss
noch erwähnen, dass Vater, der ja beste Beziehungen zur Schifffahrt
hatte, für uns alle Plätze auf der "Wilhelm Gustloff" gebucht hatte, um
so den Russen zu entgehen und über die Ostsee "Heim ins Reich" zu
fliehen. In letzter Minute hatte er das jedoch wieder abgeblasen, wegen
der "Minengefahr". Recht hatte er, denn die Willhelm Gustloff sank mit
Mann und Maus, doch dankbar, ohne uns.
Ich
glaube, die nächsten Tage und vielleicht Wochen durften wir wieder in
Omas Wohnung leben. Ohne alles Lebenswichtige, wie Essen, Licht,
vielleicht sogar Wasser, denn Danzig brannte. Die "Zuckerinsel" brannte
den ganzen Monat. Ich sah auch Teerstrassen brennen.
Die Russen
führten sich wie betrunken auf, und dass waren sie denn wohl auch, wann
immer sie Alkohol fanden. Ein russischer Panzer voll Betrunkener kajolte
durch die Strassen und fuhr mit voller Wucht in ein Haus. Das Haus brach
über den Russen zusammen. Sie kamen nicht mehr lebend heraus. Niemand
kümmerte sich um sie. Die Russen zeigten keine großen Anteilnahme an
ihren Kameraden. Das bringt der Krieg wohl mit sich.
Hier endet
der Krieg, wie ich mich seiner erinnere. Für heute mache ich Pause.
Da sind
noch viele Kerne, die ich aufknacken möchte. Sie betreffen das Leben
unserer Familie direkt nach dem Krieg. Ich hoffe, dass das nicht zu
langweilig wird. Ihr könnt mich jederzeit zurückpfeifen …
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Die Wilhelm Gustloff
war ein Passagierschiff der nationalsozialistischen Organisation Kraft
durch Freude (KdF). Ihre Versenkung durch das sowjetische U-Boot S 13 am
30. Januar 1945 zählt mit etwa 9.000 Opfern zu den größten Katastrophen
der Seefahrtsgeschichte
Modell der "Wilhelm
Gustloff”
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Zum Untergang der Wilhelm
Gustloff siehe auch Günther Grass: Im Krebsgang ... |
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