Nana Glen, Australien
Flucht aus Bromberg
Es ist
spät, die Hunde schlafen beinahe schon, so lange ich mich nicht bewege,
nur ich kann nicht schlafen.
Bromberg
liegt mir auf dem Magen und dem Herzen, und mein Gehirn kann sich nicht
verteidigen. Ich gebe auf.
Ihr wisst
ja schon, dass unser Haus dort am Exerzierplatz lag, also am Rande der
Stadt. Die einführende Landstrasse vom Osten lag flach auf der Erde,
ungefähr einen Kilometer von uns entfernt. Wie kann man eine auf der
Erde liegende Strasse sehen aus der Entfernung?
Eine
Strasse ohne bedeutende Merkmale? Und wer wollte es schon?!
Doch
zwischen den uns gegenüber liegenden Häusern war eine Lücke durch die
wir in der Ferne diese Landstrasse sehen konnten, und das nur, weil sie
zu "leben" begann. Wir lebten ja noch nicht so lange in Bromberg.
Der Krieg ging mehr und mehr verloren. Die Angst im Osten trieb die
Menschen auf die Flucht zum "Reich", und ja, sie kamen! Sie kamen Tag
und Nacht.
Die
unbedeutend scheinende Landstrasse verwandelte sich in eine unendliche
Raupe, die sich in die Stadt hineinfraß. Tag und Nacht! Wir konnten die
Flüchtlinge vom Fenster aus in der Ferne vorbeiziehen sehen. Und das
Woche für Woche ohne Ende.
Wir Kinder
rannten hinüber am Tag, winkten, sprachen mit den Menschen, und wussten
einfach nicht viel und was überhaupt geschah.
Diese
Fluchtraupe war überwältigend, aufregend!
Angst war
an der Spitze des Zuges und lief die Meilen von Menschen entlang bis zum
unsichtbaren Schluss, den wir nie zu sehen bekamen. Ängstliche Neugier
war in uns und mir auch. Da war ein grauer, ungeordneter Zug von
Pferdewagen aller Gattungen. Leiterwagen, Kutschen, Jagdwagen,
Handwagen. Ich bin sicher, sogar Schubkarren, Bullerwagen, Kinderwagen.
Und Leute ohne Wagen, nur mit Koffern und meistens Bündeln von Decken
und Armut. Ich sage das nicht nur so, ich weiß es und sehe es noch ganz
klar vor mir. Ach, da waren auch wunderschöne Pferde und Kühe, Schafe
und Ziegen. Leute in Lumpen. Frost gab es, denn es war schon Winter
1944.
Alle
möglichen Plätze in Bromberg, die Schulhöfe, alles war von Flüchtlingen
überflutet. Lagerfeuer brannten auf unserem Schulhof jede Nacht. Wagen,
Tiere und Menschen kauerten zusammen, um am Morgen weiterzuziehen.
Es war
aufregend und irgendwie auch schön und sehr voller auf Angst.
Ich weiß
noch, dass ich eine Sammlung von kleinen Eisenwürfeln mit einem dicken
Schraubengewinde irgendwo auflas, was mich sehr stolz machte. Ich wusste
eigentlich nicht, wozu diese Klötze dienten. Irgendetwas mit Hufeisen
hatten sie zu tun. Reingeschraubt zu werden, um mehr Griff zu geben. Ich
glaube, sie wurden "Stollen" genannt oder so (waren aber nicht
essbar). Ich schleppte sie mit mir herum wie einen Schatz. Das waren sie
ja denn auch für mich.
Da war,
nicht weit von uns, hinter einem Waldstreifen mit leichtem Hügel, eine
Eisenbahnlinie, oder besser gesagt, viele Gleise. Ein großer
Rangierbahnhof, auf dem viele, viele Dampflokomotiven von gewaltiger
Größe abgestellt waren. Und ich meine viele und große, wie eine
gewaltige Herde von Walfischen auf dem Trockenen. Alle verlassen,
gestrandet, das Ende des Krieges hatte sie schon erreicht.
Viel mehr
kann ich von Bromberg nicht berichten, denn auch unsere Zeit dort rann
aus. Der Bürgermeister machte eine Ankündigung vor dem Rathaus, dass
alle Bürger beruhigt seien sollen, was auch immer geschähe. Bleibt zu
Hause und schließt die Türen, mit anderen Worten: Heil Hitler! Doch
gleich nach der Ansprache schlüpfte er in sein Dienstauto und raste
heimlich aus der Stadt gen Westen, heim ins Reich.
Vater war
ja auch sehr informiert über die Verhältnisse an der Front, die da ja
schon vor der Türe war.
Auf dem
Landgut, das er mit zu verwalten hatte, waren aufgrund des Krieges über
tausend russische Beutepferde evakuiert. Fast am verhungern glaube ich,
wie so Gefangene im Krieg sind. Von all denen hatte er die zwei Besten
aussuchen und einen Planwagen herrichten lassen, wie im wilden Westen,
mit Stroh ausgefüllt. Wir luden alles darein was wir packen konnten für
unsere eigene Flucht, genau so, wie wir es nun schon seit Wochen an uns
vorbeiziehen sahen.
Vaters
Chauffeur kam und schlug in der Waschküche allen unseren Hühnern den
Kopf ab, nahm die Kaninchen bei den Ohren, schlug ihnen mit einem Scheit
auf den Hinterkopf und schnitt die Kehle durch. Ich weiß das ganz genau,
denn ich sah es durch die Tür. Die Hühner flatterten ohne Kopf noch
lange herum, spritzten ihr Blut durch die Waschküche. Eile tat Not und
nach uns die Sintflut. So war das eben.
Es war
Winter und kalt. Die Hühner und die Hasen wurden außen an der linken
Seite an den Wagen gehängt und waren bald steif gefroren. Ja, und dann
gingen wir auf die Flucht. Wir Kinder und Mutter im Stroh gekuschelt mit
all unseren Mitnehmseln, und Vater und sein Chauffeur vorne auf dem
Kutschersitz. Los ging es nach Danzig. Tag und Nacht, 140 km weit ... und
jetzt gehe ich zu Bett hier in Nana Glen.
Gute
Nacht.
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Da bin ich
wieder. Es ist der 01.09.08 und der Frühling hat wie auf Befehl
angefangen. Herrlicher Sonnenschein, 26 Grad im Schatten und das um
10.45AM.
Die
Waschmaschine tritt ihre Sommerferien an, denn ich lebe hier in meinem
geheimnisvollen Garten immer wie ein Ureinwohner, nur mit Armbanduhr,
und oft mit Lederschutz an beiden Händen für die Bogenschiesserei
bekleidet. Es ist wunderbar so ungezwungen und unbeobachtet leben zu
können.
Doch jetzt
zurück zu dem eiskalten Teil einer nicht sehr schönen Vergangenheit, zur
Flucht nach Danzig!
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Ich weiß
nicht, wann es genau war, dass unsere zwei Pferdchen eingespannt wurden.
Denn das waren sie ja wohl. Pferdchen! Nicht sehr groß. Die russischen
Steppenpferde sind von kleinem Wuchs doch ungeheuer zäh und ausdauernd.
Sie galoppieren nicht richtig, sondern rennen wie Nähmaschinen im Trott
ohne aufzuhören. Bewundernswert.
Ich sage
mal, dass es im frühen November 1944 war, doch kann dass falsch sein.
Vielleicht wissen meine geliebten Brüder das noch besser.
Jedenfalls
kam die Kutsche ins Rollen ohne Unterlass. Die Pferde waren ein Braunes
und ein Schwarzes. Am ersten Morgen, als wir anhielten, um sie zu
füttern und Rast zu machen
– denn wir
fuhren auch die Nächte hindurch) waren die beiden weiß-grau vom Frost
und Raureif mit Eiszapfen an den Schnurbarthaaren ums Maul.
Nicht viel
geschah, dessen ich mich erinnern kann auf dieser Strecke. Es war
eiskalt, doch wir saßen mit Decken und Federdecken tief im wärmenden
Stroh, umgeben von all den Dingen, die wir nicht zurücklassen wollten.
Also hoch beladen.
Ich weiß
nicht, wie viele Tage und Nächte wir unterwegs waren. Die Entfernung bis
Danzig waren 140 km. Die Reise wurde wohl auch oft unterbrochen, denn da
waren ja noch hunderte andere in der Fluchtkolonne.
Es war in
der Nacht, als wir ungefähr 15 km vor Danzig anlangten. Stockdunkel war
es und kein Licht erlaubt wegen der Gefahr von Luftangriffen und
Kohlenklau.
Und dann
geschah es!! Ein Armeelastwagen kam hinter uns her. Er hatte zwei
Frontlichter an, jedoch nur mit ganz kleinen Schlitzen die auch noch
nach obenhin mit kleinen Dächern wie Mützenschildern abgedeckt waren.
Man konnte also praktisch gar nichts damit sehen. Das tat der Fahrer
denn auch nicht, und so krachte der Laster in unser Hinterteil und brach
die Achse, glaube ich.
Grosses
Angstgeschrei muss da wohl gewesen sein. Vater sprang vom Bock und kam
nach hinten.
"Wer ist
verletzt?" rief er. "Hier tropft ja Blut!!"
– Die
Soldaten kamen mit Taschenlampen und beleuchteten den Schaden. Das Blut
entpuppte sich als ein zerbrochenes Honigglas. Auch ein Verlust, doch
besser als Blutverlust
Unser
Planwagen konnte nicht mehr weiter. Die Soldaten waren auch auf dem Weg
nach Danzig. So luden sie uns Kinder und Mutter und die wichtigsten
Dinge in ihren Laster und versprachen, uns bei Oma und Opa Müller
abzuliefern. Das war ja unser Ziel, soviel ich weiß.
Vater und
Kutscher blieben zurück mit der Bescherung und gelangten dann irgendwie
mit Gepäck, doch ohne Pferde und Wagen, ein paar Tage später wieder zu
uns.
Hier
könnte ich nun ein wenig falsch sein in meinen Erinnerungen, doch glaube
ich, dass wir alle bei Ohmchen Müller untergebracht wurden.
Onkel
Horst hat ja schon beschrieben, wie schön und interessant
die Aussicht aus dem Küchenfenster des Hauses im Langgarten war, hin auf
die Ausfuhrstrasse ins Werder, mit all dem Betrieb. Der Schlachthof war
ja auch da irgendwo zur Linken und Kühe wurden dann auch noch
vorbeigetrieben. Doch das weiß ich mehr von früheren Besuchen bei
Ohmchen.
Irgendwie
glaube ich, dass Tante Erna und ihr Mann Onkel Fritz, Vater von "Hanusch",
auch eine Wohnung im gleichen Haus bewohnten.
Eine Etage
darunter?! Ich kann es nicht beschwören, weiß jedoch, dass wir alle
zusammen waren. Wir F., Opa und Oma und die Unterlaufs, Tante Erna
und Onkel Fritz.
Er war ein
kleinerer, schon ziemlich alter Mann, der wohl mal als Soldat im "Fernen
Osten" in einem der früheren Kriege gedient hatte. Er hatte ein
Glaskabinett voll mit wunderschönen Schätzen aus jener Zeit. Da war ein
"vergifteter" Dolch, der wie in ein Fieberthermometer in einer ledernen
Hülle steckte sowie eine Menge anderer aufregender Sachen. Das Beste
jedoch, und niemals Vergessene, waren zwei mächtige Reiterpistolen.
Doppelläufig und mit Steinschlosshähnen. Irgendwie gelang es mir einmal,
sie zu ergattern, als ich mit Ihnen allein im Zimmer war. Ich weiß nicht
was und wie es geschah, aber auf einmal war ein Hahn an einer der
Pistolen abgebrochen. Ein Gewitter brach los (denke ich). Die waren doch
so wertvoll, selten und nicht nur von mir geliebt.
– Wieder
einmal muss ich wohl das Bewusstsein verloren haben. Es war einfach zu
fürchterlich, die gewisse Strafe in vollem Bewusstsein zu erwarten. So
kann ich die direkten Folgen nicht mehr berichten…
Hier
schließe ich für heute. Ich hoffe, euch nicht zu langweilen.
Das
nächste Mal wird der Krieg zu Ende gehen. Das wird eine recht lange
Geschichte werden, für die ich mich erst mal wieder stählen muss.
Nana
Glen, der Frühling mit dem ersten Fuß in der Tür, der mich in den
nackten, glücklichen Hintern tritt! Love to all!
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Ausschnitte aus Hans' Replik vom 01.10.08
Es war also nicht der November 1944,
sondern der 23. Januar 1945, an dem wir als "Einzeltrecker" mit unserem Panjewagen in Bromberg losfuhren.
Gottfried täuscht sich auch, wenn er
sagt, der Chauffeur sei mit auf dem Bock gesessen. Nein, nur Vater saß
da und abwechselnd wir Buben. Der besagte Chauffeur hatte am Tag zuvor
die 32 (zweiunddreißig) Kaninchen geschlachtet.
– Aber keine Hühner,
die dann mit "appen" Köpfen durch die Gegend rasten, wie er so schön
beschreibt. Egal! –
Jedenfalls, es war elend kalt.
....
Nun gut, zurück zur Flucht aus Bromberg.
Gerade wollten wir losfahren, da stieg Vater nochmals vom Bock, eilte
ins Haus. Als er kurz darauf zurück kam, sagte er zu Irma, er habe
vergessen, den Schreibtisch abzuschließen. Das läge doch seine Leica
drin... und so könne zwischenzeitlich niemand sie einfach stehlen!
....
Wie gesagt: Es war bitterkalt und die
Straßen spiegelglatt. Viele notgedrungen getötete Pferde lagen am
Straßenrand. Sie hatten sich die Beine beim Sturz gebrochen, woraufhin
ihnen dann die Kehle durchgeschnitten worden war, um ihr Leiden zu
beenden. Und da sah ich dann, dass ein Pferd eine Luftröhre hat so groß
und weiß wie ein Staubsaugerschlauch. Es gibt Bilder, die vergisst man
einfach nicht!
Und jetzt komme ich zu den 32
Kaninchenlebern, die wir mit dabei hatten (ebenfalls gefroren). In der
ersten Nacht hielten wir dann an einem völlig überfüllten Landgasthof
irgendwo vor Graudenz.
....
Vater
– oder seiner
Bestechung – gelang
es, trotz der Überfüllung im Landgasthof die gesamten 32 Lebern braten
zu lassen. Und so aßen wir erstmals in unserem Leben: Kaninchenleber
gebraten! Und nicht nur das: Es hieß: Kaninchenleber satt!!!
– Seitdem habe ich
nie wieder Kaninchenleber gegessen!
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