Lebensberichte und Familienchroniken

Gottfried F.

Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten

01.09.2008

 

 

Nana Glen, Australien

Flucht aus Bromberg

Es ist spät, die Hunde schlafen beinahe schon, so lange ich mich nicht bewege, nur ich kann nicht schlafen.

Bromberg liegt mir auf dem Magen und dem Herzen, und mein Gehirn kann sich nicht verteidigen. Ich gebe auf.

Ihr wisst ja schon, dass unser Haus dort am Exerzierplatz lag, also am Rande der Stadt. Die einführende Landstrasse vom Osten lag flach auf der Erde, ungefähr einen Kilometer von uns entfernt. Wie kann man eine auf der Erde liegende Strasse sehen aus der Entfernung?

Eine Strasse ohne bedeutende Merkmale? Und wer wollte es schon?!

Doch zwischen den uns gegenüber liegenden Häusern war eine Lücke durch die wir in der Ferne diese Landstrasse sehen konnten, und das nur, weil sie zu "leben" begann. Wir lebten ja noch nicht so lange in Bromberg. Der Krieg ging mehr und mehr verloren. Die Angst im Osten trieb die Menschen auf die Flucht zum "Reich", und ja, sie kamen! Sie kamen Tag und Nacht.

Die unbedeutend scheinende Landstrasse verwandelte sich in eine unendliche Raupe, die sich in die Stadt hineinfraß. Tag und Nacht! Wir konnten die Flüchtlinge vom Fenster aus in der Ferne vorbeiziehen sehen. Und das Woche für Woche ohne Ende.

Wir Kinder rannten hinüber am Tag, winkten, sprachen mit den Menschen, und wussten einfach nicht viel und was überhaupt geschah.

Diese Fluchtraupe war überwältigend, aufregend!

Angst war an der Spitze des Zuges und lief die Meilen von Menschen entlang bis zum unsichtbaren Schluss, den wir nie zu sehen bekamen. Ängstliche Neugier war in uns und mir auch. Da war ein grauer, ungeordneter Zug von Pferdewagen aller Gattungen. Leiterwagen, Kutschen, Jagdwagen, Handwagen. Ich bin sicher, sogar Schubkarren, Bullerwagen, Kinderwagen. Und Leute ohne Wagen, nur mit Koffern und meistens Bündeln von Decken und Armut. Ich sage das nicht nur so, ich weiß es und sehe es noch ganz klar vor mir. Ach, da waren auch wunderschöne Pferde und Kühe, Schafe und Ziegen. Leute in Lumpen. Frost gab es, denn es war schon Winter 1944.

Alle möglichen Plätze in Bromberg, die Schulhöfe, alles war von Flüchtlingen überflutet. Lagerfeuer brannten auf unserem Schulhof jede Nacht. Wagen, Tiere und Menschen kauerten zusammen, um am Morgen weiterzuziehen.

Es war aufregend und irgendwie auch schön und sehr voller auf Angst.

Ich weiß noch, dass ich eine Sammlung von kleinen Eisenwürfeln mit einem dicken Schraubengewinde irgendwo auflas, was mich sehr stolz machte. Ich wusste eigentlich nicht, wozu diese Klötze dienten. Irgendetwas mit Hufeisen hatten sie zu tun. Reingeschraubt zu werden, um mehr Griff zu geben. Ich glaube, sie wurden "Stollen" genannt oder so (waren aber nicht essbar). Ich schleppte sie mit mir herum wie einen Schatz. Das waren sie ja denn auch für mich.

Da war, nicht weit von uns, hinter einem Waldstreifen mit leichtem Hügel, eine Eisenbahnlinie, oder besser gesagt, viele Gleise. Ein großer Rangierbahnhof, auf dem viele, viele Dampflokomotiven von gewaltiger Größe abgestellt waren. Und ich meine viele und große, wie eine gewaltige Herde von Walfischen auf dem Trockenen. Alle verlassen, gestrandet, das Ende des Krieges hatte sie schon erreicht.

Viel mehr kann ich von Bromberg nicht berichten, denn auch unsere Zeit dort rann aus. Der Bürgermeister machte eine Ankündigung vor dem Rathaus, dass alle Bürger beruhigt seien sollen, was auch immer geschähe. Bleibt zu Hause und schließt die Türen, mit anderen Worten: Heil Hitler! Doch gleich nach der Ansprache schlüpfte er in sein Dienstauto und raste heimlich aus der Stadt gen Westen, heim ins Reich.

Vater war ja auch sehr informiert über die Verhältnisse an der Front, die da ja schon vor der Türe war.

Auf dem Landgut, das er mit zu verwalten hatte, waren aufgrund des Krieges über tausend russische Beutepferde evakuiert. Fast am verhungern glaube ich, wie so Gefangene im Krieg sind. Von all denen hatte er die zwei Besten aussuchen und einen Planwagen herrichten lassen, wie im wilden Westen, mit Stroh ausgefüllt. Wir luden alles darein was wir packen konnten für unsere eigene Flucht, genau so, wie wir es nun schon seit Wochen an uns vorbeiziehen sahen.

Vaters Chauffeur kam und schlug in der Waschküche allen unseren Hühnern den Kopf ab, nahm die Kaninchen bei den Ohren, schlug ihnen mit einem Scheit auf den Hinterkopf und schnitt die Kehle durch. Ich weiß das ganz genau, denn ich sah es durch die Tür. Die Hühner flatterten ohne Kopf noch lange herum, spritzten ihr Blut durch die Waschküche. Eile tat Not und nach uns die Sintflut. So war das eben.

Es war Winter und kalt. Die Hühner und die Hasen wurden außen an der linken Seite an den Wagen gehängt und waren bald steif gefroren. Ja, und dann gingen wir auf die Flucht. Wir Kinder und Mutter im Stroh gekuschelt mit all unseren Mitnehmseln, und Vater und sein Chauffeur vorne auf dem Kutschersitz. Los ging es nach Danzig. Tag und Nacht, 140 km weit ... und jetzt gehe ich zu Bett hier in Nana Glen.

Gute Nacht.

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Da bin ich wieder. Es ist der 01.09.08 und der Frühling hat wie auf Befehl angefangen. Herrlicher Sonnenschein, 26 Grad im Schatten und das um 10.45AM.

Die Waschmaschine tritt ihre Sommerferien an, denn ich lebe hier in meinem geheimnisvollen Garten immer wie ein Ureinwohner, nur mit Armbanduhr, und oft mit Lederschutz an beiden Händen für die Bogenschiesserei bekleidet. Es ist wunderbar so ungezwungen und unbeobachtet leben zu können.

Doch jetzt zurück zu dem eiskalten Teil einer nicht sehr schönen Vergangenheit, zur Flucht nach Danzig!
 

 

Ich weiß nicht, wann es genau war, dass unsere zwei Pferdchen eingespannt wurden. Denn das waren sie ja wohl. Pferdchen! Nicht sehr groß. Die russischen Steppenpferde sind von kleinem Wuchs doch ungeheuer zäh und ausdauernd. Sie galoppieren nicht richtig, sondern rennen wie Nähmaschinen im Trott ohne aufzuhören. Bewundernswert.

Ich sage mal, dass es im frühen November 1944 war, doch kann dass falsch sein. Vielleicht wissen meine geliebten Brüder das noch besser.

Jedenfalls kam die Kutsche ins Rollen ohne Unterlass. Die Pferde waren ein Braunes und ein Schwarzes. Am ersten Morgen, als wir anhielten, um sie zu füttern und Rast zu machen denn wir fuhren auch die Nächte hindurch) waren die beiden weiß-grau vom Frost und Raureif mit Eiszapfen an den Schnurbarthaaren ums Maul.

Nicht viel geschah, dessen ich mich erinnern kann auf dieser Strecke. Es war eiskalt, doch wir saßen mit Decken und Federdecken tief im wärmenden Stroh, umgeben von all den Dingen, die wir nicht zurücklassen wollten. Also hoch beladen.

Ich weiß nicht, wie viele Tage und Nächte wir unterwegs waren. Die Entfernung bis Danzig waren 140 km. Die Reise wurde wohl auch oft unterbrochen, denn da waren ja noch hunderte andere in der Fluchtkolonne.

Es war in der Nacht, als wir ungefähr 15 km vor Danzig anlangten. Stockdunkel war es und kein Licht erlaubt wegen der Gefahr von Luftangriffen und Kohlenklau.

Und dann geschah es!! Ein Armeelastwagen kam hinter uns her. Er hatte zwei Frontlichter an, jedoch nur mit ganz kleinen Schlitzen die auch noch nach obenhin mit kleinen Dächern wie Mützenschildern abgedeckt waren. Man konnte also praktisch gar nichts damit sehen. Das tat der Fahrer denn auch nicht, und so krachte der Laster in unser Hinterteil und brach die Achse, glaube ich.

Grosses Angstgeschrei muss da wohl gewesen sein. Vater sprang vom Bock und kam nach hinten.

"Wer ist verletzt?" rief er. "Hier tropft ja Blut!!" Die Soldaten kamen mit Taschenlampen und beleuchteten den Schaden. Das Blut entpuppte sich als ein zerbrochenes Honigglas. Auch ein Verlust, doch besser als Blutverlust

Unser Planwagen konnte nicht mehr weiter. Die Soldaten waren auch auf dem Weg nach Danzig. So luden sie uns Kinder und Mutter und die wichtigsten Dinge in ihren Laster und versprachen, uns bei Oma und Opa Müller abzuliefern. Das war ja unser Ziel, soviel ich weiß.

Vater und Kutscher blieben zurück mit der Bescherung und gelangten dann irgendwie mit Gepäck, doch ohne Pferde und Wagen, ein paar Tage später wieder zu uns.

Hier könnte ich nun ein wenig falsch sein in meinen Erinnerungen, doch glaube ich, dass wir alle bei Ohmchen Müller untergebracht wurden.

Onkel Horst hat ja schon beschrieben, wie schön und interessant die Aussicht aus dem Küchenfenster des Hauses im Langgarten war, hin auf die Ausfuhrstrasse ins Werder, mit all dem Betrieb. Der Schlachthof war ja auch da irgendwo zur Linken und Kühe wurden dann auch noch vorbeigetrieben. Doch das weiß ich mehr von früheren Besuchen bei Ohmchen.

Irgendwie glaube ich, dass Tante Erna und ihr Mann Onkel Fritz, Vater von "Hanusch", auch eine Wohnung im gleichen Haus bewohnten.

Eine Etage darunter?! Ich kann es nicht beschwören, weiß jedoch, dass wir alle zusammen waren. Wir F., Opa und Oma und die Unterlaufs, Tante Erna und Onkel Fritz.

Er war ein kleinerer, schon ziemlich alter Mann, der wohl mal als Soldat im "Fernen Osten" in einem der früheren Kriege gedient hatte. Er hatte ein Glaskabinett voll mit wunderschönen Schätzen aus jener Zeit. Da war ein "vergifteter" Dolch, der wie in ein Fieberthermometer in einer ledernen Hülle steckte sowie eine Menge anderer aufregender Sachen. Das Beste jedoch, und niemals Vergessene, waren zwei mächtige Reiterpistolen. Doppelläufig und mit Steinschlosshähnen. Irgendwie gelang es mir einmal, sie zu ergattern, als ich mit Ihnen allein im Zimmer war. Ich weiß nicht was und wie es geschah, aber auf einmal war ein Hahn an einer der Pistolen abgebrochen. Ein Gewitter brach los (denke ich). Die waren doch so wertvoll, selten und nicht nur von mir geliebt. Wieder einmal muss ich wohl das Bewusstsein verloren haben. Es war einfach zu fürchterlich, die gewisse Strafe in vollem Bewusstsein zu erwarten. So kann ich die direkten Folgen nicht mehr berichten…

Hier schließe ich für heute. Ich hoffe, euch nicht zu langweilen.

Das nächste Mal wird der Krieg zu Ende gehen. Das wird eine recht lange Geschichte werden, für die ich mich erst mal wieder stählen muss.

Nana Glen, der Frühling mit dem ersten Fuß in der Tür, der mich in den nackten, glücklichen Hintern tritt! Love to all!

 

Ausschnitte aus Hans' Replik vom 01.10.08

Es war also nicht der November 1944, sondern der 23. Januar 1945, an dem wir als "Einzeltrecker" mit unserem Panjewagen in Bromberg losfuhren. Gottfried täuscht sich auch, wenn er sagt, der Chauffeur sei mit auf dem Bock gesessen. Nein, nur Vater saß da und abwechselnd wir Buben. Der besagte Chauffeur hatte am Tag zuvor die 32 (zweiunddreißig) Kaninchen geschlachtet. Aber keine Hühner, die dann mit "appen" Köpfen durch die Gegend rasten, wie er so schön beschreibt. Egal! Jedenfalls, es war elend kalt.

....

Nun gut, zurück zur Flucht aus Bromberg. Gerade wollten wir losfahren, da stieg Vater nochmals vom Bock, eilte ins Haus. Als er kurz darauf zurück kam, sagte er zu Irma, er habe vergessen, den Schreibtisch abzuschließen. Das läge doch seine Leica drin... und so könne zwischenzeitlich niemand sie einfach stehlen!

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Wie gesagt: Es war bitterkalt und die Straßen spiegelglatt. Viele notgedrungen getötete Pferde lagen am Straßenrand. Sie hatten sich die Beine beim Sturz gebrochen, woraufhin ihnen dann die Kehle durchgeschnitten worden war, um ihr Leiden zu beenden. Und da sah ich dann, dass ein Pferd eine Luftröhre hat so groß und weiß wie ein Staubsaugerschlauch. Es gibt Bilder, die vergisst man einfach nicht!

Und jetzt komme ich zu den 32 Kaninchenlebern, die wir mit dabei hatten (ebenfalls gefroren). In der ersten Nacht hielten wir dann an einem völlig überfüllten Landgasthof irgendwo vor Graudenz.

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Vater oder seiner Bestechung gelang es, trotz der Überfüllung im Landgasthof die gesamten 32 Lebern braten zu lassen. Und so aßen wir erstmals in unserem Leben: Kaninchenleber gebraten! Und nicht nur das: Es hieß: Kaninchenleber satt!!! Seitdem habe ich nie wieder Kaninchenleber gegessen!