Lebensberichte und Familienchroniken

Gottfried F.

Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten

21.08.2008

 

 

Nana Glen, Australien

Bromberg

Also, es ist dritte Erinnerungszeit.

Spät im Jahre 1943, glaube ich, wurde Vater nach Bromberg versetzt, als Direktor der Bromberger Schleppschifffahrt. Ich weiß nicht genau, was seine Aufgabe war, doch hatte es mit der ganzen östlichen Flussschifffahrt zu tun, und er war also der Boss über allem.

Ein Landgut stand unter seiner Verantwortung. Ich glaube, ich habe es nie gesehen. Auch war da ein ziemlich großer Flusshafen mit vielen zusammengebundenen Lastkähnen und Booten. Man konnte von einem zum anderen klettern (mit Gefahren).

Holzflöße trieben in einer Bucht, und alles war recht aufregend, doch selten besucht.

Wikipedia: Bromberg (Bydgoszcz)

Das Unternehmen hieß: Bromberger Schleppschiffahrt Aktiengesellschaft

Das Verwaltungsgebäude der ehemaligen Bromberger Schleppschiffahrt AG im Juni 2009 im Zentrum von Bromberg

Quelle: Bilder aus Westpreußen

Ein neues Haus war für uns gebaut worden, ganz nach Vaters und auch der Kinder Wünsche.

Hier muss ich ein bisschen erklären.

In Zoppot hatten wir, glaube ich, nur eine Toilette im Badezimmer. Mit so vielen Leutchen war da ganz klar oft ein peinliches Gedrängel, geladen mit Angst und Verwünschungen (Hauptmann von Köpenik!!! vor dem Stationsklo: "Wer scheißt denn da so lange??!!")

Nun, als es zu dem neuen Haus in Bromberg kam, da wünschte sich jeder von uns ein eigenes LOO (=Klo).

So geschah es denn, dass wir wenigstens fünf verschiedene Toiletten im Haus verteilt hatten. Oben, unten im Keller und in der Mitte.

Es war ein Segen – ein ganz kleines, gemütliches Loo war auf dem Treppenabsatz zum ersten Stock. Es war das einzige, das wirklich zählte. In Sitzaugenhöhe war zur Linken ein Fenster hin zum Garten, ziemlich groß, doch davon später mehr.

Also, dieser kleine Ort, der mir wohl damals schon meine nie versiegende Bevorzugung kleiner Räume eingepflanzt hat, war von allen schnellfüßigen Mitgliedern unserer großen Familie geliebt und verehrt. Die Regel war "wer zu erst kommt, mahlt zuerst". (Hier kommt unsere Ahnentafelverwandtschaft zum Müllertum, zum Vorschein.) Also weiter im Text.

Auch Vater, der Würdigste von uns allen, liebte dort zu verweilen, unter anderem versuchend, auch die italienische Sprache zu erlernen – wenigstens wurde das so durch Irma Ella meinem Gedächtnis vermittelt.

Um der ganzen Sache gerecht zu werden, muss ich nun ans andere Ende der Geschichte eilen. Das war also das tägliche Mittagessen.

Oder besser gesagt, jede Form von gemeinsamer Tafel.

Ich sagte ja schon mal früher, dass das, was auf den Tisch kam, auch gegessen werden musste. Ein anderes Gesetz war, dass, wenn alle fertig gegessen hatten, wir uns reihum an den Händen fassten, selbige zur Schulterhöhe hoben, und uns dann mit Singsang im Chor und einem rhythmischem Auf- und Niedergeschwinge eine "Gesegnete Mahlzeit" wünschten.

Das war ja alles recht schön und gut, doch erfolgte es aus mehreren Gründen. Der Wichtigste war, uns an den Tisch zu fesseln und keinem den Vorsprung zu dem geliebten Loo zu ermöglichen, und das war, worauf Vater sehr drang. Denn er wollte natürlich auch, in würdevoller Weise, der Erste am "ORTE" sein. Wenn einer von uns Kindern schon den Fuß hinterm Stuhl hatte und den Hosenlatz schon zur Tür ausrichtete ... erbarmungslos wurde er zurückgepfiffen, die Hände wieder verkoppelt. (Ihr seht, eine spannende Tischzeit!!!)
 

Bromberg, Tannenstraße 14

2010 - jetzt befindet sich in dem Haus eine Seniorenbegegnungsstätte. Gottfried checkt die Toiletten - eine ist gerade besetzt -, sucht verzweifelt die Toiletten 6 und 7 ... und hat vergessen, dass es doch nur 5 waren ...

Ja also, wir kamen nach Bromberg, ich glaube, ein Jahr nach dem fatalen "Blutsonntag". Das war ein Tag in der Geschichte, wo erst die Polen, die ja doch viel mehr zu Bromberg gehörten als wir Deutschen, sich gegen die Deutschen auflehnten und ziemlich viele von ihnen umlegten. Darauf folgte auf dem Fuße die Deutsche Wehrmacht und vollendete die blutige Geschichte.

Es muss grausig gewesen sein. Die Atmosphäre blieb auch noch in dem Jahr gespannt, als wir dort lebten. In dieser Zeit wurden noch Gerippe im Walde gefunden, und viele Leute blieben verschollen.

Nun, das Haus hatte einen recht großen Garten, der an einen weiten Truppenübungsplatz grenzte. Sehr aufregend für uns Kinder und ein guter Auslauf zum Ausbüxen. Andererseits waren da noch nicht viele Pflanzen oder Bäume im Garten, denn er war kaum ein Jahr alt.

Ein mit Hühnerdraht eingezäunter, niedrig mit Draht überspannter Hühnerauslauf war an ein Kellerfenster angeschlossen. Im Keller war also unser neuer Hühnerstall. Schön ausgelegt mit Brutnestern, Schlafstangen, Hühnerleitern. Um den Zirkel voll zu schlagen, da waren auch Hühner. Jedes von uns Kindern hatte sein eigenes und Vaters war Hannibal (ein sehr stolzer, weißer Hahn und nicht ganz ungefährlich, wie Vater am eigenen Leibe erfuhr, als er einmal aus irgendeinem Grund in den niedrigen Auslauf ging, gebückt, wie es nicht anders möglich war, und Hannibal ihn in Verteidigung seines Reiches angriff und ihn ganz schön kratzte).

Ich muss mitteilen, dass ich den Namen meines eigenen Huhnes vergessen habe. Es war ein mattschwarzes und ziemlich langweilig.

Hans hatte das auch von mir Geliebte, ein pechschwarz Glänzendes, der "Schwarze Panther" genannt. Heinz hatte ein großes, rundliches, schwarzgrau gemottelt, Frau Kobel genannt, nach unserer Zoppoter Milchladen Frau, an die es uns sehr klar erinnerte.

Ernst hatte "Dummerle". Einen Namen, den es verdiente, als es ihr erstes Ei auf der Schlafstange sitzend legte. Sie war schön, in der Falbenfarbe der Haflinger Bergpferde und eine ausgezeichnete Mutterhenne mit vielen Nachkommen, die alle gegessen wurden. Meistens in Eiform. Dann waren da zwei weiße Leghorn, Schneeweißchen und Rosenrot genannt, und die gehörten Christiane und Gudrun. Eckardt hatte kein eigenes, er war ja noch kaum ein Jahr alt. Zwei unbenannte, fette Rodeländer Hennen mit rostrotem Gefieder gehörten noch dazu, und öfter eine Schar Küken, die bald das Zeitliche segneten, wenn sie essbar erschienen. Außer einem. Das hatte einen Buckel und machte dem "Glöckner von Notre Dame" alle Ehre. Oft gedachten wir es zu erlösen, doch Vater gab ihm immer wieder eine Chance. Er behauptete, es sei "zusehend wachsend", und den Namen trug es denn auch mit nur ganz wenigen, verkrumpelten Federn am Schwanz bis zu seinem baldigen Hinscheiden.

Warum ich so viel von den Hühnern schreibe und mich an sie erinnere, ist, weil, der polnischen Sitte folgend, wir die Hühner, die am Tag Eier zu legen planten, nicht aus dem Kellerfenster herausließen, bis sie dieses erledigt hatten.

Es war nun meine tägliche Aufgabe, die Hühner am Morgen herauszulassen. Der Grund lag darin, dass ich, allzumal ein zarter Jüngling von neun Jahren war, und überhaupt schon beschlossen hatte, "Obertierarzt" zu werden (was mir denn ja auch später ganz gewaltig misslungen ist, ja nicht einmal versucht wurde!!) – Immerhin ist es mir in jenen Tagen täglich gelungen, in dass Innenleben der Hennen einzudringen. Um herauszufinden, welches denn wohl ein Ei im Hintern hatte, fertig, um heraus zu wollen, musste, polnischer Bauernsitte folgend, mein zarter, wohl beschnittener Zeigefinger in die leicht zu öffnende Hintertür einer jeden Henne eingeführt werden. War da ein gewisser Widerstand, widerstand ich der Versuchung, die Betreffende in den Garten zu entlassen. Sie legte erst ihr Ei, um dann dem Hannibal zu folgen. Der war übrigens sehr sprachgewandt. Jeden Morgen saß er scharrend auf dem Sims vor dem geschlossenen Fenster und in gurgelnden Ton, doch in einem ganz klaren Satz, sprach er wiederholt "Lass mich bitte raus, lass mich bitte raus!" Ich schwöre, es war ganz klar und verständlich. Ich höre und liebe es noch heute, wenn ich an ihn denke.

Gerade nun überfällt mich eine ungewohnte Trauer und eine Schwermut bei all diesen alten Gedanken, und so beschließe ich denn für heute Brombergs Geschichte hier zu unterbrechen, und daraus eine zweiteilige dritte Erinnerung werden zu lassen.

Verehrenswerte Leser, lasst’s Euch nicht verdrießen. Ich hoffe, ihr könnt das Bisherige verdauen und genießen.

Bis bald....... Gottfried F. .... Nana Glen, 12AM

Nachtrag:

Da kommt mir gerade in den Sinn, die Novelle, oder einfach eine kleine Geschichte, des "Leinwandmessers" von  Nicolei Leskow, denke ich.

Ein Russe natürlich, der aber, wie sollte es anders sein, ganz wunderbar erzählen  konnte. Es ist die Lebensgeschichte eines Schecken, eines alten Pferdes, das ganz phantastisch als Pferd war, aber ein Schecke!! Wenn Du es nicht gelesen hast, versuche es zu finden. Ich wollte, ich könnte es noch mal lesen. Ich las es vor langen, langen Jahren. Immer wieder taucht es auf in meiner kleinen Seele und schauert mich.

Auch ich bin ein alter Schecke. Gottfried.

Nächster Nachtrag:

… der morgen, oder bald, zum Necker geschickt wird. Die Einbahnstrasse des Lebens hat ein gemeinsames Ende!! Love again, Gottfried

Nächster Nachtrag:

SORRY, Tolstoi is it! Tolstoi und nicht Lieskow. Never mind, beide sind so nah zum Leben in des Herzens Gedanken. Gruß, Gottfried
 

Wikipedia: Bromberger Blutsonntag