Lebensberichte und Familienchroniken

Gottfried F.

Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten

27.07.2008

 

 

Nana Glen, Australien

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Also, Hans hat mir da so ein paar Leviten gelesen, und da bin ich denn ja auch sehr dankbar für. (Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, und seine ist mir besonders ans Herz gewachsen.) So werde ich also versuchen, richtiger zu schreiben, auch, wenn das den Lauf aufhalten kann. Hier in Australien haben die Computer kein "ä-ö-ü" auf der Tastatur. Sehr zu meinem Kummer.

Ich habe einen "meinen" Bericht gelesen und bin sehr froh, dass er genau so geblieben ist, wie ich ihn verbrochen habe. Nur ohne Fehler und übersichtlicher. Danke dir sehr dafür.

Dieses sich Erinnern ist eine Pest geworden. Ich wache auf in der Nacht, und fange an, in versteckten Gehirnkammern zu stöbern. Suchend und findend, und schwerlich wieder einzuschlafend.

Alt, wie ich bin, wache ich ja immer mal wieder auf. Doch dann hab ich immer eine der Lyrik-CDs von Görners Würfel auf dem CD-Spieler, die mich, manchmal unter Tränen, in den Schlaf gleiten lassen. Diesen Lyrikwürfel will und muss ich doch jedem, Freund und Feind, empfehlen.

Er besteht aus 50 CDs Lyrik, beginnend im 18. Jahrhundert bis auf den heutigen Tag. Gesprochen von Lutz Görner. Überwältigend. Ich bin Hans lebenslang dankbar, dass er sie mir geschenkt hat.

Was da so auf dieser Welt an Geist, Herz und Denken gelebt und gelitten hat, zieht dir die Schuhe aus. Droste-Hülshoff!!!!!!!! Enzensberger, Pablo Neruda, Robert Gernhardt, Anna Louise Karsch, Puschkin, Heine, ach es ist einfach fassungslos reich und schön und traurig auch. Dies waren meine schlaflosen Nächte bis jetzt.

Nun krieche ich durch Erinnerungsröhren, die oft verstopft und abgeschnitten sind.

Manchmal sind sie sogar verdreckt oder falsch, denn die Bilder sind ja doch sehr alt und verschwommen. Dennoch werde ich das Ausmalen weitermachen. Wer weiß, was da kommt?!

All dies ist nur ein Einwurf. Die Quälerei soll weiter gehen.

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Und da stoppt es auch schon. Wo war ich? Wo will ich hin?

Ja, ich bin noch in Zoppot. Wenigstens bis 1942. Gehe zur Schule, ohne beeindruckendes Geschehen; doch wohl ein glückliches Kinderleben in großer Familie.

Der wunderbare Ostseestrand war nahe bei. Herrlicher Sand, flaches, klares und warmes Wasser (nur im Sommer), Bernsteinsplitter finden und sammeln, kleine Teiche buddeln und mit Stichlingen bestücken. Wunderbar!!

Da kann ich euch darauf aufmerksam machen, dass dieser Ostseestichling ein ganz besonderer Schlingel ist. Er ist nur fingerlang, flink, hat aber keine Feinde, denn auf dem Rücken und an beiden Unterseiten hat er einen 2cm langen anliegenden Stachel, den er bei Gefahr aufrichtet und sich damit zur igelgleichen Festung macht.

Die braucht er aber auch, denn er ist der Vater einer großen, winzig kleinen Kinderschar, die er ihren zahlreichen Müttern beinahe vor der Geburt entführt hat.

Nun schwimmt er inmitten seiner großen, winzigen Schar herum. Kommt ihm einer jedoch zu dumm, dann öffnet er sein kleines großes Maul und husch, die ganze Schar ist eingesaugt, hereinbefohlen, in Sicherheit, die Stacheln drohen........ Ihr seht?!

Die verbleibende Gefahr ist nur, dass der treue Vater husten könnte und einige seiner Kinder verschluckt. Doch hat er ja so schrecklich viele. (Verzeiht, dies hat ja eigentlich nichts mit mir zu tun. Es kam nur so angeschwemmt).

Dann war da am oberen Ende von Bülowallee Nr. 14 (unserem Haus), der Schidlitzkegel, und auf ihm viel Tannen, und auch Laubwald. Blaubeeren! Pilze sammeln taten wir oft, glaube ich. Jedenfalls erinnere ich mich an die fantastisch gelben, verkrempelten Pfifferlinge und ihren Geschmack. Steinpilze, und die märchenhaften, roten mit weißen Tupfern und Füßen bedachten Fliegenpilze. So verlockend und giftig. Ich glaube, sie haben LSD in sich. Ein, nun schon toter Freund, hat in seiner Jugend sich eingesperrt und ein Versuchsessen vorgenommen. Er erzählte mir, dass er beinahe gestorben wäre und die furchtbarsten Schreckensträume hatte, die drei Tage dauerten. (Also seid gewarnt.)

Da fällt mir ein, dass auch ich vor ein paar Jahren Pilze in die Suppe (zu der ich eingeladen war) geschmuggelt bekam. Es waren "Goldies", die klein und golden sind, ähnlich Pfifferlingen und auf Kuhweiden wachsen.

Mir wurde wunderlich und ganz absonderlich und alle Kraft zog aus den Beinen durch den Hintern in die Wirbelsäule und ließen mich sehr sonderbarwarm und glücklich sein.

Ich wusste nicht was es war, denn keiner erklärte mir die fatale Tat..... also, es ist eine schöne Erinnerung für mich und ein bisschen geisterhaft. Habe es nie wieder genossen und würde es auch nicht wagen.

Der Schidlitzkegel war auch unser Ski- und Schlittengelände. Ziemlich steil und rundlich. Dann war da die Waldoper, tief im Grünen und heute wohl wieder sehr im Gebrauch (wie Hans berichtete). Auch war da ein schöner Waldtiergarten (Sternkreuz oder so, glaube ich) mit Rehen und, ganz bestimmt, Bibern, diesen großen Wasserratten mit dem Tischtennisschwanz. Auch eine Igelfamilie kam manchmal durch unseren Garten. Zwei Eltern und drei kleine im Gänsemarsch.

Ja und dann, irgendwann, ich glaube, 1943 oder so, brachte Hans ein kleines, schwarz-weißes Kaninchen nach Hause. – Na, wir Kinder waren aus dem Häuschen vor Freude.

So war auch der Vater! Doch aus ganz entgegengesetzten Gründen.

"So etwas kommt mir nicht ins Haus!!! Oh nein!!!!" (Die Gründe habe ich vergessen und sehe sie auch heute noch nicht ein.)

Wir Kinder fielen auf die Knie mit Bitten und Geschrei um Erbarmen für uns und "Gretchen", denn das wurde des kleinen Kaninchens Name, und, um es gleich zu sagen, sie war und entwickelte sich in eine "Deutsche Riesenschecke", eine der großen Rasse = nicht klein!

Also gut, wir durften sie behalten, doch nur unter der Bedingung, dass wir ganz furchtbar gut für sie sorgen würden. Das tägliche Futter im Garten und am Straßenrand sammeln, den kleinen Stall blitzsauber halten, Schulaufgaben pünktlich machen, den Eltern die Wünsche von den Augen ablesen, (auch von hinten), kurz, eine Fesselung fürs Leben. Schatten davon, ich bin sicher, beeinflussen noch heute die nächtlichen Träume der Eltern meines Vaters Enkelkinder!!

Um dieses Kapitel zu schließen, will ich nur noch kurz berichten, dass dieser, unser Vater, eine sadistische Liebe für Kaninchen entwickelte.

Ja, ja. Er nahm uns beim Wort. Besonders mit dem Stall ausmisten, und das mitten in der Nacht im Nachthemd, wenn es versäumt worden war. Doch, oh Graus, nicht lange später, in Bromberg, im Garten entstand ein stattliches Haus. Groß, mit überhängendem Dach und drei Käfige hoch und wenigsten sechs Käfige breit. Mit Futterkrippen und doppelten Boden zum Ansammeln der, vergebt mir, angesammelten "Scheiße"!!!! Wie herausziehbare Kuchenbleche voll Shit. Ich bin fast sicher, dass wir Kinder das öfter als genau DAS empfunden haben – Also, davon wird noch mehr in der Zukunft zu erfahren sein.

Da sind noch zwei Dinge der Zoppoter Zeit, neben all den vielen, die aufzuwachen drohen.

Eines ist, dass ich zur aktiven Teilnahme am politischen Deutschland gezwungen ward.

Es war durch die Schule. Ohne erkennbaren Grund wurden eines Tages alle Schüler auf die Strasse gejagt und zu langen Trippelreihen gezwungen, so lange die Schüler ausreichten.

Einfach nur so dazustehen und zu warten.

Ja, und dann kam da also eine kleine Panzerspähkolonne herangerollt. Ein Mann in Uniform ragte aus dem ersten Wagen, um, er konnte es nicht lassen, uns unschuldige Kinder mit Bonbons zu beschießen.

Das war also unser großer Führer, Adolf H.

Auch ich bekam einen Lolly und lutschte ihn, anstatt meine erste und letzte Gelegenheit zu nutzen, mit kühner Tat und wohlgezieltem Bonbonwurf den zweiten Weltkrieg zu verhindern.

Die zweite Sache ist viel phantastischer. Das war, ich glaube 1942, als der Winter so streng war, dass die Ostsee, so weit man sehen konnte, richtig tragfest zugefroren war.

Sicher weiß doch ein jeder, dass Zoppot einen sehr langen und breiten (vielleicht 1000m x 11m) Seesteg sein eigen nennt. Eine feste Strasse und mit Geländern versehene Wege sind darauf, und das ganze ruht auf dicken mächtigen Holzpfählen. Hunderte. Und im Wasser.

Wind und Wellen peitschen das Wasser die Säulen hoch. Im Frost kam das Eis bis hoch zur Decke. Wir konnten unter dem Steg weit rauslaufen, vom Eispalast zum Festsaal, durch Korridore in Märchenkammern. Zwerghöhlen und Riesensofas. Es war phantastisch, unglaublich. Und das Licht und der Glanz und Schimmer und all die Eiszapfen. Grünlich glänzend wie hunderte von Riesenrotznasen.....


Der Schidlitzkegel wird auch in den Memoiren von einem Günter Althoff erwähnt - klicke hier

Ja, das ist's für heute. Meine Hunde wollen ihr Dinner und sind nicht bereit zu warten. Sie reißen mir den Griffel aus der Hand und brechen ihn in kleine Stücke, die sie zu verschlingen drohen.

Punkt um und bis bald. Wundere mich, was da noch so im Hinterwald wuchert???

Nana Glen, Nachmittag - ohne Lunch wegen all dieser Erinnerungen.

Macht Spaß, was MAUSY?

Over and out, Gottfried