Lebensberichte und Familienchroniken

Gottfried F.

Von Zoppot nach Australien - in vielen Schritten

25.07.2008

 

 

Nana Glen, Australien

Ein Anfang in Zoppot

Also, da will ich berichten, dass ich am 2.2.1935 in Zoppot mal einfach so zur Welt gekommen bin.

Ungefragt, muss ich bekennen. Doch das hat mich nicht gehindert, in heißer Liebe zu mir zu entbrennen.

Nun bin ich bald seit 74 Jahren am Rumkrabbeln, und immer noch flackert diese herzwärmende Flamme recht munter. Selbst bei beschränktem Brennmaterial. Ich mag mich immer noch, ohne große Anstrengung.

Nun wisst ihr ein wenig über mich, was nach afrikanischer Weisheit bedeutet, dass, solange ihr euch meiner erinnert, ich noch lebe. (Stimmt doch irgendwie, nicht wahr ??!!)

Dann lasst uns mal sehen, was da so im Gehirn krakelt.

Meine erste glaubwürdige Erinnerung ist, dass ich mit Irma Ella, meiner Mutter, im Garten unseres Zoppoter Hauses am linken Kellerfenster stand, das Haus von vorne gesehen. Ich hatte eine blaue Strickhose und eine weiße Strickjacke an, mit gestrickten Hosenträgern.

Irma Ella arbeitete daran, Sandsäcke gegen das Kellerfenster zu stapeln. Ich half dabei.

Plötzlich waren da drei laute Knalle. Sehr laute Knalle! Erschreckt fuhren wir beide auf, und da sahen wir im blauen Himmel drei kleine Wolken sich langsam ausbreiten und langsam verschweben.

Noch heute weiß ich gewiss, dass Irma, und also auch ich, Angst hatten. Wir liefen ins Haus.

Heute weiß ich, dass das Datum irgendwann im Frühjahr 1939 gewesen sei muss. Ich bin sicher, dass es den Beginn des Polenfeldzugs bedeutete.

Die Zeit wurde etwas ungemütlicher, vermute ich. Der kleine Kellerraum hinter dem Sandsackfenster wurde als Luftschutzkeller eingerichtet. Ich glaube jedoch nicht, dass wir ihn je als solchen nutzten, denn die ganze Aufregung war ja in beinahe einer Woche vorbei. Jedenfalls für unsere Familie.

Ich glaube, Hans U., Tante Ernas und Onkel Fritzens Sohn (Hanush, gerufen), blond und von uns geliebt, fiel als Panzerkommandant sehr früh im Krieg. Ich erinnere mich, sein blutiges EK1 gesehen zu haben, das Tante Erna zugeschickt bekam. Einer der ersten Toten der Kämpfe.

Ich war ungefähr vier Jahre alt, doch der Kummer um mich herum ist mir gegenwärtig und machte mir irgendwie klar, dass "tot" eine unangenehme Sache sein kann. (Heute weiß ich jedoch für mich selbst, dass der Tot ein guter, sanfter Bruder ist, ohne den das Leben unerträglich werden könnte. Das nur nebenbei).

So! Der Anfang ist gemacht. Es ist ein kalter Regentag hier in Nana Glen, Australien, wo ich nun zuhause bin.

Es ist 8.30 am Morgen des 25.7.08. der Stein ist am Rollen. Ich bin hungrig und mache Frühstück. Weiß nicht wann und wie es weiter geht. Bin aber gespannt. Pause … Pause

10:46:14 AM

Da bin ich wieder. Frühstück ist wie immer das schönste Mahl des Tages, und nun schon beinahe vergessen.

Wo war ich doch gerade? Ach ja, noch am Leben – und so soll es dann auch weitergehen.

Sagen muss ich, dass ich das vierte von sieben Kindern bin. Drei Brüder, Heinz, Hans und Ernst (Zwillinge), dann ich, gefolgt von Christiane, Gudrun und als Schlusslicht, Eckardt. Wie man sagen kann, eine kinderreiche Familie.

Das hatte denn ja auch der unerfreuliche Hitler erkannt und zugestanden – Räder müssen rollen für den Sieg, Kinderwagen für den nächsten Krieg. War das nicht einer seiner Schlachtrufe??!!

Immerhin weiß ich noch ganz genau, dass an Ostern eines Jahres, noch in Zoppot und lange vor dem Ende des Krieges, wir Kinder in einer Feierhalle saßen, hinter uns unsere Mutter und viele andere Mütter. Stolz und aufgeblasen, und Irma Ella, ein blaues Samtkissen auf dem Schoss, besteckt mit kleinen, wunderschönen Orden, zwei oder drei schon vorhanden, und ja, dann purzelte wirklich da aus Hitlers geheiligter Hand ein großes und letztes, aber sehr schönes "Mutterkreuz" an den angewiesenen Platz. Ja, ja, "Feind hört mit" und "Kohlenklau" waren damals auch sehr berühmt und nicht nur als Wandbemalung.

Ich will noch sagen, dass unser Haus wunderschön war. Es steht noch, und fast alle meiner Brüder sind schon noch einmal dort gewesen und mögen mehr darüber berichten.

Gottfried F. 2008

Gottfried F. 1977 in Sydney

Ehemals Zoppot, Bülowallee 14.

Das Haus ist als hervorragendes Bauwerk in einem polnischen Buch abgedruckt.

Es erstaunt mich, wie viel ich davon noch weiß, mit vielen vielen Einzelheiten. Ich schweige vom Haus als Ganzes und mag es nur sporadisch erwähnen, doch in einem eigenen Anhang werde ich es irgendwann mal herzlich unter die Lupe nehmen.

Also, zurück zur Familie. Vater war ein Direktor der Bergtrans. Ich weiß nicht sehr viel darüber, doch war er wohl ein recht hohes Tier in dem Laden. Ich glaube, er liebte seine Kinder sehr und zeigte das mit ziemlicher Strenge. Er hatte im Herrenzimmer eine Ecke, in der ein paar dünne Rohrstöcke sichtbar waren. Ich glaube einige Male ihr Pfeifen gehört zu haben, doch mein Hintern hat mich nie auf Erkennungsmerkmale hingewiesen. Meine älteren Brüder haben vielleicht ein besseres Gedächtnis.

Ja, er war streng, und wenn Hitler im Radio sprach, mussten wir mucksmäuschenstill sein. Irma Ella auch. Das Herrenzimmer war zigarrenrauchig und geheimnisvoll und nur selten durften wir da rein.

Im großen schwarzen Bücherschrank im Bodenfach war eine Geige, die mein Vater wohl sehr gut zu spielen verstand (bis er sich im Büro an einer zerbrochenen Glaslampe eine Handsehne verletzte.)

Nun, die Geige war für Hans bestimmt, Heinz hatte das Klavier und Ernst hatte eine Klarinette auf sich warten, glaube ich. Vater wollte alle seine Kinder ein Instrument erlernen lassen. Ein sehr schöner Gedanke, der noch nicht bis zu mir durchgedrungen war. Des Alters wegen. Oder habe ich mein Instrument nur vergessen?!

Weihnachten war fast unbeschreiblich schön und sehr geheimnisvoll. Unser Haus war aber auch so gut dafür geeignet.

Ein großer Vorgarten in tiefem Schnee. Den gab es in jenen Tagen noch in wunderbarer Menge und Schönheit.

Die weißen Zaunstaketen, die Birken zur Linken, die Gartenlaube zur Rechten, all die vielen Johannes- und Stachelbeersträucher, rote, schwarze und gelblich weiße, ganz ums Haus herum, alle mit dicken Winterzipfelmützen, und der Schnee kaum betreten. – Im Esszimmer, das die kalte Pracht war und nur wirklich zu Weihnachten genutzt wurde, gingen geheimnisvolle Dinge vonstatten.

Der Weihnachtsbaum war uns ja bekannt durch seine nackte Ankunft. Doch von dem Tag an war alles tabu und verschwunden. Doch da waren Geräusche und oft wurden wir verscheucht und die Eltern quetschten sich durch so schmal wie mögliche Türspalten ein und aus. Wir Kinder spielten meistens im ersten Stock im Wohnzimmer mit einem großen Balkon. Da führte eine steile Treppe von vielleicht 18 Stufen direkt von der geheimnisvollen Esszimmertür hoch ins Haus. Teppichbelegt und oft und immer als Warteraum für alle uns Kinder genutzt, jeder mit zwei Stufen für sich. In der Diele zur Linken hing ja der Adventskranz mit vier brennenden Kerzen. Nadelduft schwebte über uns und wir Kleinen waren sicher nicht ganz unängstlich.

Vater und Mutter wirkten im Weihnachtszimmer. Geräusche, Geräusche! Geraschel, auch mal hämmern.

Und dann kommen beide ganz bekümmert aus dem Zimmer. Etwas Unaufschiebbares ist passiert!!!

Vater muss unbedingt und ganz schnell zum Apotheker rennen. Es ist entsetzlich und wichtig.......wir wissen jedoch, dass der Weihnachtsmann jeden Moment erwartet wird. Vater wird ihn sicher wieder vermissen, genau wie letztes Jahr.

Welch Jammer. Aber es ist nicht zu ändern. Schnell bringt Mutter ihn in die Speisekammer oder wohin auch immer, um ihn auch warm anzupummeln und zur Eile zu treiben, und Vater ist weg. Wir Kinder sind auf unseren Stufen bangend angenagelt.

Die "Bergtrans" gibt es immer noch, weltweit, mit Schifffahrts- und Speditions-Bergtrans-Unternehmen in vielen Ländern und Erdteilen. Die vielen Bergtrans GmbHs in kleineren Städten Deutschlands sind offensichtlich Franchiseunternehmen.

"Berg" im Namen Bergtrans bezieht sich auf die norwegische Stadt Bergen. Offensichtlich liegt dort der Ursprung des Unternehmens.

Der vollständige Name des Unternehmens lautete ursprünglich "Bergenske Baltic Transport Ltd."

Die entsprechende Firma hieß in Danzig "Bergenske Baltic Transport Ltd Danzig", die 1927 in "Bergtrans Shipping Co. Ltd." umbenannt wurde und 1937 wiederum in "Bergtrans Schiffahrts AG".

Die gedruckten Aktien dieser Bergtrans Schiffahrts AG werden heute als historische Danziger Wertpapiere gehandelt, kosten so um die 50 €. Ein Bild ließ sich leider nicht finden ... aber dieser Briefumschlag der Bergtrans Danzig nach Schweden vom 12. Januar 1939 ...

Hans F.

Zur "Bergtrans"

Zur "Bergtrans". Ja, es ist auf dem Langen Markt das dritte Haus in Richtung Weichsel, genau gegenüber vom Neptunbrunnen und vom Artushof ...

Und dort in der "Bergtrans" haben wir auf den Fensterbrettern gesessen und Hitler zugejubelt, der dort unten 1939 in seinem Mercedes stehend vorbeifuhr.

Gottfried F. 2010 vor dem Langen Markt Nr. 3
dem ehemaligen Bergtrans-Gebäude

Da geht die Hausklingel. Durch den tiefen Schnee im Vorgarten stapft der Weihnachtsmann mit einem großem Sack auf dem Rücken und angemessener Reisigrute in der Handschuhfaust – ich erinnere mich gewisser Angstgefühle, auch, weil ich nicht weiß, wie ich mein Gedicht vortragen werde. Jeder hatte sein eigenes Weihnachtsgedicht aufgeschrieben und ausgemalt und gelernt.

Er kam, er setzt sich in den großen Sessel in der Diele. Er begrüßt uns ein wenig knurrig, wir singen ihm ein Weihnachtslied, und dann tritt jeder einzeln der Reihe nach in seinen Bannkreis. Ach, von jedem weiß er genau, was er verbrochen hat durchs Jahr hindurch. Auch Gutes hat er gesehen. Er lobt, er droht auch und bewegt die Rute mit verhaltenem Ärger. Mutter wird bedacht für ihre Liebe und Sorge und jeder sagt zitternd sein Gedicht.

Es tut ihm so leid, dass Vater aus dem Haus ist, doch Pflicht ist Pflicht in Deutschland.

Dann geht er, seinen Sack schüttelnd, mit Mutter ins Weihnachtszimmer. Geräusche, Geräusche.........

Nach kleiner Weile geht er wieder, bedauernd, Vater nicht getroffen zu haben......

Wir warten, wir warten …. Endlich kommt der Vater!!!! Oh Vater, die Not ist groß, ohne dich geht hier nichts los.

Der Weihnachtsmann war auch schon hier und wir … wir vergehen schier.

Die Eltern verschwinden im Weihnachtszimmer und wir warten immer noch und immer!!!!

Da klingt die kleine Klingel fein – die Tür geht auf, wir strömen rein. Da brennen die Kerzen am grünen Baum, geschmückt mit Lametta, Farbkugeln, Strohsternen, Äpfeln, Engeln wie ein Traum.

In der Mitte steht der große Ausziehtisch beladen mit – was wohl? Denn sehen kann man nur weiße Tücher, die wie Schnee eine Alpenlandschaft bedecken. Ach, da sind Berge und tiefe Täler und jeder denkt und hofft, einen Berg zu ergattern (Bescheidenheit, Bescheidenheit, verlass mich nicht bei Tische, und mach’, dass ich zur rechten Zeit, das größte Stück erwische).

Ja, aber so geht das doch nicht!!! Vater hat ja doch den Weihnachtsmann verpasst und so auch unsere Gedichte!!!! Also alles noch mal, und mit dem Rücken zum Tisch, spicken gibt es nicht!! Dann werden ein paar Lieder gesungen, das selbstgebaute Pfefferkuchenhaus bewundert und ein bisschen angegriffen ... und dann! Ja, und endlich dann wird jeder an seinen verdeckten Platz am Tisch gestellt. Pause ….. jeder schaut, ob er den größten oder kleinsten Schneeberg vor sich hat .... Und dann, letztendlich dann, alle Hände ans weiße Tuch, hoch in die Höhe fliegt es und verschwindet zur Seite und da, da liegt und steht es alles. Jeder hat seinen eigenen bunten Teller mit Keksen, Äpfeln, Nüssen, Bonbons und all den Sachen, die dir Magenschmerzen machen. Ach, dass ist Freude, da ist Lachen, Genuss der Geschenke und manchmal auch ein bisschen Neid?! Ach es ist eine herrliche Weihnachtszeit.

Ich erinnere mich an Kartoffelsalat und Würstchen, die kaum noch einer essen konnte und mochte. An Heiligabend kochte kaum einer. Ach ja, Weihnachten war damals schon schön. Nie werde ich es so wieder sehen.

Hier ist es genug, für heute mache ich das Vergangenheitsbuch zu. Ich glaube aber, ich bin verhext. Ich ahne schon was da als Nächstes kommt. Ich hoffe diese Seiten genügen und machen jedem vergnügen. Habe die ersten Zeilen an Hans gesandt, doch werde ich dass nicht wieder tun. Es könnte ihm seine Schreiberei verderben, denn jeder muss ja ganz frei seine Erinnerungen hervorbringen, unbeeinflusst von den Gedanken der Anderen. Ich schicke diese Zeilen ohne sie heute noch mal zu überlesen. Doch hoffe ich, verständlich zu sein. Nun brauche ich Abstand und etwas Wein, drum lass ich jetzt das schreiben sein. (Hat mir jedoch sehr gefallen. Danke für den Anstoß und much love.) Ich werde heute nicht mit dem Skype mehr anfangen, doch ich will es bald getan haben.
 

Hans F.

Guten Morgen! Was einfach toll ist: Dass Du Gottfried veranlasst hast, so tief hinab zu steigen und in wunderbar gesetzten Worten alte Erinnerungen auszukramen. Ich sehe alles vor mir, als ob es gerade gewesen ist. Diese unglaublichen Einzelheiten: aber alles ist genau so geschehen. Wenn er auch vergessen hat, dass der Weihnachtsmann jedes Mal für unseren Vater eine Flasche Danziger Goldwasser auf dem Sims des Fensters neben der Haustüre abgestellt hat. Quasi als Entschädigung für den verpassten Besuch des Weihnachtsmanns.

27.07.2008
Hans