Heinz Mandey : Ungeordnete Erinnerungen -
Nickelswalde zwischen 1935 und 1958

Rückkehr zu einem fremden Volk.
dessen Sprache weder meine Mutter noch ich mächtig war

Die Vorbereitungen unserer Abreise nach der Erledigung sämtlicher Formalitäten liefen. Eigenartigerweise erschien meiner Mutter und mir die Bürokratie in einer abgespeckten Form. Wir hatten den Eindruck, das polnische Konsulat in Lübeck brauche nur noch die Einreiseerlaubnis meiner Mutter zu übergeben, alles andere wäre bereits in Danzig geregelt.

Andererseits wuchs in meiner Mutter und mir ein Unbehagen. Die Rückkehr war nicht unbedingt von uns beiden gewünscht, wurde aber von meiner Mutter schließlich doch trotz starker Bedenken akzeptiert. Schließlich war es der Ehemann und mein Vater, dem es verwehrt wurde, an der Vertreibung zu uns in den Westen teilzunehmen. Er wurde vom polnischen Staat festgehalten, um aus Ostpolen geflüchtete und im Werder angesiedelten Polen die Fischerei beizubringen.

Unsere Rückfahrt verlief mit dem Schiff zügig von Roststock bis Stettin. Unsere Mitreisenden waren rückkehrende Polen, die in Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt worden waren. Aber, wie ich viel später erfuhr, waren unter ihnen auch Polen, die ehemals „freiwillig“ für Nazideutschland tätig gewesen waren. Die Polen bemerkten sofort, dass meine Mutter und ich miteinander deutsch sprachen. Meine ersten Prügel bezog ich, nachdem ich mich auf dem Schiff weigerte, einem kotzenden polnischen Kind den Dreck wegzuwischen. Aber letztendlich war dies bis zum Ende der Reise noch harmlos.

Nach der Ankunft im Hafen von Stettin ging es mit dem Zug weiter nach Danzig. Vom Bahnhof in Danzig wurden wir nicht abgeholt. Wie denn auch? Meinem Vater war mitgeteilt worden, dass die Rückführung am 01.08.1947 stattfinden würde, aber wir waren bereits Mitte Juni angekommen. Möglicherweise hatten die Polen noch einen alten deutschen Kalender an der Wand hängen - wer weiß es.

Die Rückkehr zu dem Ort in dem ich geboren worden war. Er hieß nicht mehr Nickelswalde sondern von 1945 bis 1946 Rybarkowo. Nachdem sich die Russen zurückgezogen und den Polen das Gebiet überlassen hatten, wurde dann aus dem einstigen Nickelswalde Mikoszewo.

An der Weichsel angekommen wurden meine Mutter und ich plötzlich wortlos. Ohne Unterhaltung, nach dem Motto, weder gehört noch gesehen werden, zogen wir durch das Dorf zu meinem Elternhaus. Wir spürten plötzlich eine Beklemmung, die ich bis heute nicht beschreiben kann. Schon in den ersten Tagen nach unserer Rückkehr sah ich vieles, was mir fremd vorkam oder besser gesagt, was ich so nicht gekannt hatte. Sehr schnell habe ich meine Tanten und Onkel vermisst. Vor allem fehlten mir so sehr meine Cousins und Cousinen, mit denen ich bis vor wenigen Tagen mein ganzes junges Leben gemeinsam verbracht hatte. Sie waren für mich wie Geschwister gewesen. Ich fühlte mich wie ein Welpe, den man zu früh von seinen Geschwistern entfernt hatte.

Bis dahin mir unbekannt: Jeden Tag liefen unzählige lamentierende betrunkene Polen auf der Straße. Ich erlebte auch Polen, die auf ihre Ehefrauen einschlugen, damit sie auf den Feldern arbeiteten.

Als Deutsche aus ihren Häusern vertrieben wurden, gewährte man ihnen großzügigerweise oft bis zu bis 30 Minuten Zeit, das Objekt zu räumen. Ob und gegebenenfalls was sie mitnehmen durften bestimmten die neuen Besitzer. Einige Alteigentümer durften wohlwollend noch draußen in den eigenen Gärten bis zum Abtransport übernachten und sich eine warme Mahlzeit zubereiten (das Leben unterm Apfelbaum). Zu diesen gehörte auch meine Tante mit Familie in Pasewark - so hieß das Dorf bis 1945, danach Jantar. Als Gegenleistung für die Großzügigkeit mussten die ehemaligen Eigentümer den neuen Bewohnern täglich die Fenster putzen und die Innenräume säubern. Es gab ja nicht so viel Staub, aber jeden Tag mussten leere Flaschen entsorgt werden. Dahinter stand wohl die Hoffnung, dass je öfter diese Fenster und Räume jetzt gereinigt werden würden, so bräuchten die neuen Besitzer es selber nie mehr zu tun. Sie ließen auch die Kühe versorgen und ähnliche Arbeiten verrichten. Die Neubesitzer lebten oftmals nach dem Motto, nichts gesät und doch geerntet.

Die Besetzung des Dorfes mit Polen war gut organisiert Sie waren schnell angekommen.

Für den Fischereiberuf waren überwiegend junge Männer im Alter von schätzungsweise 18 bis 34 Jahren vorgesehen. Viele von ihnen waren ledig, einige wenige verheiratet. Manche von ihnen hatten durch die Naziverbrecher während der Okkupation Polens die Eltern und Großeltern verloren, teilweise auch Geschwister. Ich habe sie im Laufe der Jahre nach und nach kennengelernt. Für mich sind sie schwer zu beschreiben. Es waren sehr ruhige Menschen. Rachsucht war ihnen fremd, obgleich sie dazu ja ausreichend Anlass gehabt hätten. Einer dieser jungen Männer wurde meinem Großvater zum Fischen zugeteilt. Mein Großvater sagte oft, dass er sehr gelehrig sei. Da, wie alle anderen Deutschen auch, meine Großeltern kein polnisch sprachen musste der junge Mann deutsch lernen. Mein Großvater sprach dann nicht nur deutsch mit ihm sondern auch das Werderplatt, das er in kurzer Zeit ausgezeichnet lernte. Die Bindung zwischen meinen Großeltern und dem jungen Mann, später auch mit seiner Frau und seinen Kindern, war sehr vertraut. Er stellte auch die Frage, ob er zu meinem Großvater und zu meiner Großmutter Vater und Mutter sagen dürfe, was er natürlich durfte. Bei jeder Familienfeier auf beiden Seiten waren stets alle zugegen. Auch als mein Großvater später in Westdeutschland lebte hielt er bis zu seinem Tod regelmäßig Briefkontakt. Dieser einst junge Pole ist vor zwei Jahren verstorben, aber seine Frau lebt noch heute in Mikoszewo / Nickelswalde.

Kleine Familienfeier bei meinem Onkel Ernst Mandey im Jahr 1956

Das Zusammenleben der deutschen und polnischen Fischer in Mikoszewo / Nickelswalde war im Allgemeinen gut. Ich betone, mit den polnischen Fischern. Bei den Landwirten und bei denen, die es sein wollten, sah es etwas anders aus. Möglicherweise deswegen, weil sie meinten, auf Hilfe von den Deutschen nicht angewiesen zu sein.

Der Gruß

Dies war noch vor unserer Rückkehr nach Mikoszewo / Nickelswalde geschehen: Mein Vater und ein deutscher Fischerkollege waren von der Weichsel kommend auf dem Heimweg und unterhielten sich. Sie begegneten zwei angetrunkenen Polen, einem Bauern und einem Schmied. Plötzlich wurden mein Vater und sein Kollege angesprochen. Warum sie die zwei Polen nicht grüßten. Die Antwort war wohl eine Entschuldigung, und sie holten die Begrüßung nach. Aber die beiden Polen waren mit einem „Guten Tag“ nicht einverstanden. Sie forderten, die Begrüßung mit einem „Heil Hitler“ zu wiederholen. Da mein Vater und sein Kollege sich weigerten, dem Wunsch der Polen nachzukommen, wurden beide ganz erbärmlich auf der Straße zusammengeschlagen. Anschließend mussten sie zur ehemaligen Gaststätte Herbert Krause mitgehen. Seitlich am Gebäude befand sich ein Saal (welcher heute noch vorhanden ist) mit einer Bühne. Die beiden Polen nahmen auf der Bühne Platz und mein Vater und sein Kollege wurde von den Sitzenden aufgefordert, im Stechschritt im Kreis an den beiden vorbei zu defilieren und mit „Heil Hitler“ zu grüßen. Doch jede Vorstellung geht einmal zu Ende. Als die beiden Polen offensichtlich befriedigt waren, gingen sie mit meinem Vater und seinem Kollegen „spazieren“. Der Weg führte zu einem kleinen Bauernhof. Zu der Zeit als das Dorf noch Nickelswalde hieß wohnte

 

dort ein Bauer und Viehhändler namens Polakowski. Aus Deutscher Zeit stand dort noch eine Kutsche. Kurzerhand wurden mein Vater und sein Kollege vor diese Kutsche gespannt. Die zwei Polen setzten sich nun voller Stolz auf die Kutsche und ließen sich mehrmals durchs Dorf ziehen. Frei nach dem Motto „wir sind ja wer“.

Schule

Nach den Sommerferien wurde ich in der Schule angemeldet, um am polnischen Unterricht teilzunehmen. Ich musste nach Schiewenhorst / Swibno. Dort war eine allgemeine Schule, in der ich nun was lernen sollte. Ich betrat den Klassenraum etwas schüchtern. Ein Zeigefinger wies mich an, mich auf einem bestimmten Stuhl zu setzen. Da saß ich dann bis zur Pause. Nach der Pause erfolgte die Fortsetzung. Welches Fach gerade unterrichtet wurde habe ich abgesehen von Mathematik nicht verstanden. Ich kann mich an eine Unterrichtstunde erinnern. Das Thema war das Einmaleins. Ich hatte die Aufgabe 8 x 5 zu rechnen. Das Ergebnis nannte ich in Deutsch: 40. Doch die Lehrerin verbesserte mich. Es würde nicht vierzig sondern furzig heißen. Das Wort furzig irritierte mich. Im ersten Moment dachte ich, sie wäre der Meinung, ich hätte einen Furz gelassen. Das wies ich entschieden zurück mit einem klaren "Nein". Aber Lehrer wollen ja bekanntlich immer das letzte Wort haben. Zu meiner Überraschung sprach die Dame aber kein Wort Deutsch. Oder wollte sie es nicht?

Bereits am zweiten Unterrichtstag hatte es sich herumgesprochen, dass ein Deutscher auf die Schule gekommen sei, der die polnische Sprache nicht verstehe. Ein „Schwab“ - so nannte man uns, und vereinzelt nennt man uns immer noch so. (Es handelt sich hierbei um ein gemäßigtes Schimpfwort). Innerhalb von wenigen Tagen haben dann die größeren Jungs mir wohl die polnische Sprache einhämmern wollen, denn von nun an wurde ich täglich in den Pausen mit zarten Kinderstimmchen von 16-jährigen angebrüllt. Ich hatte viele Namen. Einmal war ich ein „Schwab“, dann ein „Hitlerowiec“, usw. Ich wurde nach Lust und Laune verprügelt. Und an Lust fehlte es denen nicht. Wenn meine Mutter mich fragte, woher die blauen Flecken an meinem Körper wären, vor allem im Gesicht, erfand ich immer neue Notlügen. Aber nach nur kurzer Zeit fiel mir nichts mehr ein. Nun kam die Stunde der Wahrheit. Meine Eltern ließen mich ab sofort nicht mehr am Schulunterricht teilhaben. Ich wurde in der Schule auch nicht vermisst, denn es kam keine Nachfrage.

Es wurde eine Privatschule gefunden, die mein Vater dann privat bezahlt hat. Die Lehrerin war eine ehemalige Professorin, die vor dem Krieg an der Uni in Warschau unterrichtet hatte. Von den Kommunisten hatte sie Unterrichtsverbot für alle öffentlichen Schulen bekommen, aber unter bestimmten Auflagen durfte sie privat unterrichten. Jetzt fühlte ich mich wesentlich wohler. Das Lernen hat mir Spaß bereitet, vor allen Dingen die polnische Grammatik. Sie ist schwer. Bis man sie richtig erlernt hat vergeht viel, sehr viel Zeit.

Nach meinem Schulabschluss war mein geistiger Horizont etwas breiter. Neben Deutsch war ich unter anderem ein perfekter polnisch sprechender und schreibender Junge geworden. Aufgrund der Herkunft der Professorin sprach ich polnisch mit Warschauer Dialekt. Dies sollte mir später öfter helfen. Es gab häufiger Situationen, in denen es nicht besonders von Vorteil gewesen wäre, wenn jemand mein Deutschtum erahnt hätte. Weder auf höherer Ebene noch im Allgemeinen wurde auch nur ein winzig kleiner Schritt unternommen, den Deutschen nur ein ganz klein wenig freundlicher entgegenzutreten. Dafür waren die Sieger wohl zu stolz – Stolz und Dummheit sind wohl Verwandte.

Intrigen um 1950

Mein Elternhaus war einem Polen ein Dorn im Auge. Er wollte das Haus gern für jemanden haben. Es gab jedoch für ihn wenig Handhabungen, denn der Grund unsere Anwesenheit dort war ja bekannt. Es musste folglich etwas anderes unternommen werden, um an das Haus zukommen. Dieser Pole war seinerzeit aktives Parteimitglied. Er hatte gute Beziehungen in viele Richtungen.

Die Orte an der Küste standen als zum Grenzgebiet gehörig unter besonderer Bewachung. Auch in Mikoszewo / Nickelswalde gab es eine Kaserne, belegt mit Grenzmilitär, polnisch genannt WOP. Dem zuständigen Kommandanten trug man zu, dass mein Vater ein „unsicherer“ Einwohner wäre. Solche „Unsicheren“ mussten aus dem Grenzgebiet ausgewiesen werden.

Zuerst erfolgte eine nächtliche Polizeidurchsuchung. Zugegen war ein besoffener Polizist aus Drewnica / Schönbaum sowie ein 18-jähriger nüchterner Parteisekretär in Zivil. Es war bereits Mitternacht. Meine Eltern und ich mussten uns anziehen. Meinem Vater erklärte man, dass er angeblich eine Waffe besäße. Anschließend wurden wir in den Keller geführt. Der Polizist fing an, dort herumzusuchen. Mein Vater sagte dem Parteioberen, er möge seinem Kollegen doch ausrichten, dass dieser beim Suchen seine eigene Waffe nicht verlieren möge. Dieser zweideutige Hinweis wurde offenbar sofort verstanden. Bereits nach circa 5 Minuten war die Aktion ergebnislos beendet. Der Gesetzeshüter merkte wohl, dass er nüchtern wurde und fragte kurzerhand meinen Vater ob dieser einen Schnaps habe, ihm wäre nicht gut. Aber mein Vater hatte keinen. Nachdem die beiden das Haus verlassen hatten versuchten wir, wieder einzuschlafen. Es gelang uns nicht.

Nach zwei Tagen erhielt mein Vater einen Brief in dem er aufgefordert wurde mit seiner Familie innerhalb von 48 Stunden den Ort zu verlassen, und sich irgendwo außerhalb des Grenzbereiches 30 km südlich von dem jetzigen Ort anzusiedeln, wohin er gehe wäre egal. Begründungen fehlten. Jetzt war Holland in Not. Doch mein Vater hatte den längeren Arm. Er beschäftigte zu diesem Zeitpunkt einen Polen als Fischer. Dieser und seine zwei Brüder waren im KZ in Stutthof eingesperrt gewesen. Einer der Brüder war ein Geistlicher und wurde von den Nazimördern zu Tode gequält. Der Zweite war Jurist, wohnhaft nach dem Kriege in Drewnica / Schönbaum. Diesen bat mein Vater um Hilfe. Der Jurist wurde sofort beim Kommandeur der Grenzabteilung vorstellig und aufgrund seiner Position auch sofort angehört. Innerhalb weniger Stunden erschien ein Offizier und erklärte, das Ganze sei ein Irrtum gewesen. Er nahm dann auch sofort den Befehl, in dem wir zum Verlassen des Ortes aufgefordert wurden, an sich und erklärte ihn für nichtig. Wenn der Vorgang nicht so traurig gewesen wäre, könnte ich schreien … und wenn Sie nicht gestorben sind so leben Sie noch heute.