Ich hatte vier
Geschwister: G., meine Zwillingsschwester E.,
R., und Lore. Als es mit dem Krieg heftiger wurde, sind wir
Kinder zu den Großeltern in die Danziger Niederung evakuiert worden:
Zwei zu den Großeltern Georg und Meta Bindemann nach Wotzlaff und zwei
zu den Großeltern mütterlicherseits Otto und Grete Daniels nach
Mönchengrebin. Hier gab es vorübergehend für uns eine ruhige Zeit. Am
13.1.1945 wurde unsere Schwester Lore geboren. Wegen der größer
werdenden Gefahr holte man uns nach Hause zurück, nur R. nicht. Sie
blieb bei den Großeltern in Wotzlaff. Warum? Im Januar 1945, als die
Russen bei Elbing die deutschen Stellungen durchbrachen, flüchteten wir
das erste Mal nach Mönchengrebin. Es wurde wieder ruhiger, und wir
fuhren nach Zigankenberg zurück. Hinter unserer Scheune auf der Hofwiese
lag schon längere Zeit eine deutsche 8,8 cm Flakbatterie mit 12
Geschützen. Unsere Zimmer waren fast alle belegt. Für uns blieb nur noch
ein Zimmer, denn bei uns lag ein Flüchtlingstreck aus Mehleder, Krs.
Gerdauen. Auf dem Hof war es nicht besser. In der Scheune standen die
Militär- und Flüchtlingspferde wie die Heringe. Eine Frau aus dem Treck
starb und wurde bei uns im Blumengarten beerdigt. Die Polen, die wir
beim Besuch der Heimat 1985 in unserem Elternhaus antrafen, glaubten,
die im Garten beerdigte Frau wäre unsere Mutter Helene Bindemann
gewesen. Unser polnisches Kindermädchen Kaja hatte der Vater auf seine
Verantwortung nach Hause geschickt. Am Palmsonntag, 25.3.1945, spät am
Abend kamen zwei SS-Männer mit vorgehaltenen Maschinenpistolen in unser
Haus und zwangen uns zur Flucht. Wir hatten zwei Stunden Zeit. Unser
Vater war noch nach Heubude an der Danziger Bucht eingezogen worden,
kehrte aber nach Zigankenberg zur Flak zurück. So hatten wir das Glück,
daß er da war, als die Flucht begann. Die Instleute (Gutstagelöhner)
bekamen Wagen und Pferde, dazu Verpflegung und Futter. Das Russenmädchen
Galina aus der Küche hatte vor den Russen Angst und fuhr mit den
Instleuten mit. Für uns besorgte der Vater noch eine Hochzeitskutsche.
Wir fuhren los: Mutti, wir vier Kinder – Rita war ja bei den Großeltern
geblieben – und das Küchenmädchen Hedwig, welche die Küche unter sich
hatte. Ja, ihr Mitkommen war für uns ein Segen! Der Vater mußte
dableiben. Von Zigankenberg aus gesehen, lagen die Stadt Danzig und der
Hafen wie auf einem Präsentierteller vor uns. Auch von hier aus schossen
die Russen mit ihren Geschützen die Stadt und den Hafen bis zum
30.3.1945 in Schutt und Asche. Als wir von Zigankenberg aus auf die
Flucht gingen, hatten wir uns dem Treck aus Mehleder angeschlossen.
Unserem Wagen folgte unser Hund, den wir zurückschicken mußten.
Unterwegs in der Stadt öffnete man oft die Türen der Kutsche, und es
wurde gefragt, ob noch Platz wäre. In der Stadt brannten schon die
Häuser zu beiden Seiten der Straße lichterloh. Das ist auch der Grund,
zu keinem Osterfeuer zu gehen, und als in Reindorf der Maacksche Hof
brannte, war es für mich eine Qual. Die Brücken waren verstopft, und so
ging es nur sehr langsam durch die Stadt. Wir fuhren in die Danziger
Niederung. In Grebinerfeld hatte Mutti Verwandte. Unterwegs erlebten wir
einen ganz schweren Fliegerangriff, hatten das Glück, in einem
Bahnwärterhäuschen unterzukommen. Wir saßen auf dem Flur in der Hocke.
Mutti und Hedwig wechselten sich im Tragen der kleinen Lore ab. Die
Funken drangen durch die geschlossene Tür. Als wir herauskamen, war der
Himmel rot, und ein betrunkener Soldat wollte unseren Wagen rückwärts in
einen Bombentrichter schieben. Das konnte Mutti gerade noch verhindern.
Wir waren im Kessel. Bei diesem Angriff wurde Galina von einem
Granatsplitter getroffen. Was ist wohl aus ihr geworden? Die Fahrt ging
weiter. Zwischendurch versuchte Mutti, etwas Milch für Lore zu bekommen.
Der Treck ging weiter. Wir hatten Angst, daß Mutti es nicht schaffen
könnte. Die Höfe lagen nicht immer an der Straße. Wir sahen auch Leichen
etwas abgedeckt an den Häusern liegen. Es hieß: „Guckt da nicht hin!“
Dann ging noch ein Rad von der Kutsche ab. Man schob sie in den
Graben, drei Kilometer weiter war schon der Russe. In Grebinerfeld bei
der Tante bekamen wir ein Stübchen. Am 2. April 1945 morgens 6 Uhr hatte
Mutti Lore auf dem Schoß und sagte: „Eure Schwester stirbt.“
Dieses Bild lässt mich nicht los. Am 4. April wurde Lore dicht an der
Kirche in Wotzlaff, wo die Großeltern wohnten, beerdigt. Unsere
Schwester R. war auch dabei. Ein Weißrusse konnte nicht verstehen,
dass Mutti mit den Kindern noch da war, was den Anstoß gab, doch aufs
Wasser zu gehen. Mutti wollte ursprünglich nicht aufs Wasser. Sie sagte
immer: „Das Wasser hat keine Balken.“ Da die Großeltern Bindemann
auch auf die Flucht wollten, war R. bei ihnen gut aufgehoben. Mutti
war einverstanden. Leider kehrten sie um und fuhren mit R. auf ihren
Hof in Wotzlaff zurück. Am 8. April brachte uns ein 16 Jahre alter Pole,
der auch sehr viel Angst hatte, mit Pferd und Wagen nach Schiewenhorst.
Unterwegs hörten wir die Kugeln pfeifen. Es war schon Abend, und man
nahm auf dem Weichselschiff nur noch Mütter mit Kindern auf. War es
Glück oder eine Fügung? Auf diesem Schiff fand Mutti ihre Eltern und
ihre Schwester Hete, die schon drei Wochen in einem Waldbunker und
Schuppen gelebt hatten. Von dem Weichselschiff wurden wir auf die offene
See gefahren. So wie man Kaffeesäcke auf ein Schiff hievt, wurden wir
auf das Walfangmutterschiff
„Unitas“, 21846 BRT, gebracht. Einer Frau fiel der Koffer ins
Wasser. So verlor sie das Letzte, was sie hatte. Auf dem Schiff befanden
sich gut 3000 Flüchtlinge.
Am 11. April
wurden wir in Sassnitz auf Rügen ausgeschifft, zur Kirche gebracht und
uns selbst überlassen. Wir fanden in der Gartenlaube einer Villa
Unterschlupf. Da es sehr kalt war, durften wir in der Villa unten auf
einem kleinen Flur schlafen. Es gab kaum Verpflegung, und auch wir
Kinder standen in der Schlange bei der Essensausgabe. Weil die
Großmutter Grete sehr krank wurde, erhielt sie im Dachstübchen eine
Bleibe. Auf Rügen befanden sich nicht nur sehr viele Flüchtlinge,
sondern auch viele deutsche Soldaten. Am 30. April verließen wir alle
zusammen mit der Großmutter, der es etwas besser ging, mit dem
Reichsbahn-Fährschiff „Deutschland“ die Insel Rügen. Auf dem Fährschiff
lagen wir auf den Schienen. Eine Verpflegung gab es nicht. Dort
erkrankte ich an Mumps.
Mutti schaffte es,
daß ich auf dem Fußboden vor den Kajüten der Matrosen liegen durfte. Am
3. Mai sind die Russen in Sassnitz eingerückt. Wir kamen nach Sonderburg
in Dänemark. Obwohl keine Flüchtlinge mehr aufgenommen werden durften,
erlaubte man uns, an Land gehen zu dürfen. Mutti und Großvater Otto
bettelten nach Eßbarem.
Am 7. Mai mussten
wir auf das 7838 BRT-große Schiff
„Neidenfels“ gehen, welches uns über Flensburg nach Eckernförde
brachte. Wir lagen dort bis zum 19. Mai im Hafen. Obwohl hier am 5. Mai
der Krieg zu Ende war, brachte man uns mit Bussen nach Lindhöft, Krs.
Eckernförde, wo wir Unterkunft in einer Scheune fanden. Wir waren 25
Personen, darunter 13 Kinder. Alle kochten auf einem Herd, auch Mutti,
wenn sie etwas hatte. Sogar Blechteller hatte Mutti organisiert, ich
weiß nicht, woher. Wenn eine Familie mit dem Essen fertig war, konnte
die nächste essen. In Lindhöft schenkte mir ein Landwirt ein Ei. Ich
hatte das Gefühl, es wäre Weihnachten. Mutti und Tante Hete halfen einem
Bauern beim Melken und bei der Feldarbeit. Großvater Otto war schon auf
dem Schiff krank geworden. Kranke sollten auf dem Schiff bleiben. Wir
hatten uns doch gefunden! Sollten wir uns wieder verlieren? Er kam in
Eckernförde ins Krankenhaus, wurde am 25. Mai nach Schleswig verlegt, wo
er am 27. Mai an Hirnhautentzündung starb. Keiner von uns konnte hin, es
fuhr kein Zug.
Knapp ein
Vierteljahr später am 8. August wurden wir aus der Scheune in Lindhöft
auf das Gut Noer umquartiert und fanden Unterkunft im Gutskindergarten.
Die Gräfin zu Ranzau selbst nähte für uns die Gardinen. Am 29. September
kehrte unser Vater Kurt mit Hilfe des Suchdienstes aus englischer
Gefangenschaft zu uns zurück. Seine Einheit hatte sich noch unter
schweren Verlusten bis Berlin durchgekämpft. Weil man ihm einen
schwerverletzten jungen Soldaten anvertraute, konnte er Berlin verlassen
und sich bis nach Schleswig-Holstein durchschlagen, wo er in englische
Gefangenschaft geriet. Im September wurde er in Minden / Westfalen
entlassen. Er erhielt am 1. November die Stelle eines Instmanns auf dem
Gut. Dadurch bekamen wir eine Wohnung. Mutti und Tante Hete mußten auf
dem Gut melken und erhielten als Wochenlohn 10 RM. Das Gut hatte 200
Kühe. Auch wir Kinder mußten helfen, z. B. Zuckerrüben verziehen. Die
Reihen waren so lang, daß man das Ende nicht sehen konnte. Wir gingen
oft weinend zur Feldarbeit.
Am 22. Juni 1946
kamen die Großeltern Bindemann mit meiner Schwester R. aus Polen zu
uns. Sie hatten dort unter den Russen eine ganz schreckliche Zeit. So
versteckten sie sich unter dem Fenster, wenn sie Schritte hörten, damit
man sie nicht sehen konnte. Oder es wurde weggesehen, wenn eine Frau
vergewaltigt wurde. So mussten sich Oma und Opa und R. nebeneinander
stellen und die Arme hochhalten. Der Großvater sollte erschossen werden,
und R. sollte in ein Heim. Sie hatten wohl einen Schutzengel, der das
verhinderte.
Unserem Vater wurde ein Angebot als Verwalter auf einem Hof
in der Lüneburger Heide gemacht. So kamen wir im Oktober 1949 auf den Hof Drumbergen
der Familie Snyckers. Den Hof hat Vater später
gepachtet.
Wir Kinder hatten
später das Gefühl, unsere Eltern nicht nach den Geschehnissen zu Hause
und nach der Flucht zu fragen, um die Wunden nicht wieder aufzureißen.
Die waren sehr, sehr tief. Und so ist manch eine Frage unbeantwortet
geblieben. Mutti ist am 24.11.1964 gestorben, der Vater am 24.6.1987.
Beide wurden auf dem Reindorfer Friedhof beerdigt. Das Letzte, was ich
dem Vater aus der Heimat als letzten Gruß mitgeben konnte, waren die
drei Hände mit der Heimaterde.
R. und ich sind
schon dreimal in unsere Heimat nach Danzig gefahren, auch meine
Geschwister waren dort. Nach 40 Jahren stand ich an meinem Geburtstag am
13.7.1985 wieder in meinem Elternhaus in Zigankenberg. Von allen drei
Höfen nahmen wir Heimaterde auch für den Vater und die Tanten, die noch
lebten, mit. In Mönchengrebin kamen zwei junge Polinnen darauf zu und
fragten:
„Wer stiehlt uns unsere Erde?“
Der Taxifahrer
klärte sie auf, worauf sie sich entschuldigten. Ja, wo ist unsere
Heimat? Im Herzen ist Danzig doch immer noch unsere Heimat.
Mit der
Nachbarsfamilie Konrad, die auf der Flucht war, aber bald nach
Zigankenberg zurückging, stehen wir seit 1985 in engem Kontakt. Sie
haben uns schon oft in Reindorf besucht, so auch das Kindermädchen Kaja,
das uns über den Suchdienst gefunden hat. Der Nachbar Anton von
Zigankenberg erzählte uns, die Kühe seien in den Ketten verbrannt. Vater
sagte, er hätte die Ketten gelöst und die Türen geöffnet. Die Wahrheit
mochte er uns nicht sagen, mußte aber mit der großen Belastung leben.
Nicht nur der Mensch hatte Angst, auch die Tiere.
Bis 1.1.2000 haben
R. und ich unser Gasthaus geführt. Jetzt haben wir mehr Zeit für die
Verwandtschaft und Familie. Meine Geschwister und ich haben alle eine
Ausbildung gemacht.
...
Nachtrag: Eine
Begebenheit meines Bruders.
„Auf einem Fest
erzählte Heinrich Tibke aus Wiegersen, Kreis Stade: „Ich bin Soldat in
Danzig gewesen und stand mit einem Wagen voller Munition auf einem Hof.
Eine Frau hat dafür gesorgt, daß der Wagen vom Hof mußte.“ Das hörte
mein Bruder G. und ergänzte: „Am Eingang zum Hof war ein großes
Holztor und dort, wo sich der Munitionswagen befand, stand ein großer
Holunderbusch.“ Heinrich Tibke erwiderte: „Was verstehst du schon
davon?“ Ja, so klein kann die Welt sein. Das war bei uns auf
Zigankenberg, und die Frau war Mutti. Die Eltern hatten noch nach dem
Krieg Kontakt mit Soldaten, die auf Zigankenberg gewesen waren.“
Lit.: E. B. liest den „Danziger Hauskalender“ seit dem Tod ihres
Vaters regelmäßig. Er erscheint in der Danziger Verlagsgesellschaft Paul
Rosenberg in Klausdorf bei Kiel.