Hof MG 24

Die Namen lebender Personen sind abgekürzt

Fluchtbericht: 37. Elsa B., geb. Bindemann

in: Hans-Heinrich Wolfes: Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes in Jesteburg und Umgebung, Jesteburger Arbeitskreis für Heimatpflege e.V., Jesteburg, 2005, S. 93 ff

Elsa B., geb. Bindemann, kommt aus Danzig-Zigankenberg, und ist mit R. B. in Reindorf verheiratet. Sie hat ihre Erinnerungen aufgeschrieben.

„Der 2. Weltkrieg begann am 1.9.1939 in Danzig, und als er zu Ende ging, wurde heftig um Danzig gekämpft. Zigankenberg liegt auf der Danziger Höhe vor Langfuhr. Von dort kann man auf die Stadt Danzig und den Hafen hinuntersehen. In Zigankenberg bewirtschafteten meine Eltern Kurt und Helene Bindemann, beide Jahrgang 1906, die Domäne der Stadt Danzig.

Ausschnitt aus der Genealogischen Karte "Westpreussen Nord"
mit freundlicher Genehmigung von Fritz Schulz - mehr

Ich hatte vier Geschwister: G., meine Zwillingsschwester E., R.,  und Lore. Als es mit dem Krieg heftiger wurde, sind wir Kinder zu den Großeltern in die Danziger Niederung evakuiert worden: Zwei zu den Großeltern Georg und Meta Bindemann nach Wotzlaff und zwei zu den Großeltern mütterlicherseits Otto und Grete Daniels nach Mönchengrebin. Hier gab es vorübergehend für uns eine ruhige Zeit. Am 13.1.1945 wurde unsere Schwester Lore geboren. Wegen der größer werdenden Gefahr holte man uns nach Hause zurück, nur R. nicht. Sie blieb bei den Großeltern in Wotzlaff. Warum? Im Januar 1945, als die Russen bei Elbing die deutschen Stellungen durchbrachen, flüchteten wir das erste Mal nach Mönchengrebin. Es wurde wieder ruhiger, und wir fuhren nach Zigankenberg zurück. Hinter unserer Scheune auf der Hofwiese lag schon längere Zeit eine deutsche 8,8 cm Flakbatterie mit 12 Geschützen. Unsere Zimmer waren fast alle belegt. Für uns blieb nur noch ein Zimmer, denn bei uns lag ein Flüchtlingstreck aus Mehleder, Krs. Gerdauen. Auf dem Hof war es nicht besser. In der Scheune standen die Militär- und Flüchtlingspferde wie die Heringe. Eine Frau aus dem Treck starb und wurde bei uns im Blumengarten beerdigt. Die Polen, die wir beim Besuch der Heimat 1985 in unserem Elternhaus antrafen, glaubten, die im Garten beerdigte Frau wäre unsere Mutter Helene Bindemann gewesen. Unser polnisches Kindermädchen Kaja hatte der Vater auf seine Verantwortung nach Hause geschickt. Am Palmsonntag, 25.3.1945, spät am Abend kamen zwei SS-Männer mit vorgehaltenen Maschinenpistolen in unser Haus und zwangen uns zur Flucht. Wir hatten zwei Stunden Zeit. Unser Vater war noch nach Heubude an der Danziger Bucht eingezogen worden, kehrte aber nach Zigankenberg zur Flak zurück. So hatten wir das Glück, daß er da war, als die Flucht begann. Die Instleute (Gutstagelöhner) bekamen Wagen und Pferde, dazu Verpflegung und Futter. Das Russenmädchen Galina aus der Küche hatte vor den Russen Angst und fuhr mit den Instleuten mit. Für uns besorgte der Vater noch eine Hochzeitskutsche. Wir fuhren los: Mutti, wir vier Kinder – Rita war ja bei den Großeltern geblieben – und das Küchenmädchen Hedwig, welche die Küche unter sich hatte. Ja, ihr Mitkommen war für uns ein Segen! Der Vater mußte dableiben. Von Zigankenberg aus gesehen, lagen die Stadt Danzig und der Hafen wie auf einem Präsentierteller vor uns. Auch von hier aus schossen die Russen mit ihren Geschützen die Stadt und den Hafen bis zum 30.3.1945 in Schutt und Asche. Als wir von Zigankenberg aus auf die Flucht gingen, hatten wir uns dem Treck aus Mehleder angeschlossen. Unserem Wagen folgte unser Hund, den wir zurückschicken mußten. Unterwegs in der Stadt öffnete man oft die Türen der Kutsche, und es wurde gefragt, ob noch Platz wäre. In der Stadt brannten schon die Häuser zu beiden Seiten der Straße lichterloh. Das ist auch der Grund, zu keinem Osterfeuer zu gehen, und als in Reindorf der Maacksche Hof brannte, war es für mich eine Qual. Die Brücken waren verstopft, und so ging es nur sehr langsam durch die Stadt. Wir fuhren in die Danziger Niederung. In Grebinerfeld hatte Mutti Verwandte. Unterwegs erlebten wir einen ganz schweren Fliegerangriff, hatten das Glück, in einem Bahnwärterhäuschen unterzukommen. Wir saßen auf dem Flur in der Hocke. Mutti und Hedwig wechselten sich im Tragen der kleinen Lore ab. Die Funken drangen durch die geschlossene Tür. Als wir herauskamen, war der Himmel rot, und ein betrunkener Soldat wollte unseren Wagen rückwärts in einen Bombentrichter schieben. Das konnte Mutti gerade noch verhindern. Wir waren im Kessel. Bei diesem Angriff wurde Galina von einem Granatsplitter getroffen. Was ist wohl aus ihr geworden? Die Fahrt ging weiter. Zwischendurch versuchte Mutti, etwas Milch für Lore zu bekommen. Der Treck ging weiter. Wir hatten Angst, daß Mutti es nicht schaffen könnte. Die Höfe lagen nicht immer an der Straße. Wir sahen auch Leichen etwas abgedeckt an den Häusern liegen. Es hieß: „Guckt da nicht hin!“ Dann ging noch ein Rad von der Kutsche ab. Man schob sie in den Graben, drei Kilometer weiter war schon der Russe. In Grebinerfeld bei der Tante bekamen wir ein Stübchen. Am 2. April 1945 morgens 6 Uhr hatte Mutti Lore auf dem Schoß und sagte: „Eure Schwester stirbt.“ Dieses Bild lässt mich nicht los. Am 4. April wurde Lore dicht an der Kirche in Wotzlaff, wo die Großeltern wohnten, beerdigt. Unsere Schwester R. war auch dabei. Ein Weißrusse konnte nicht verstehen, dass Mutti mit den Kindern noch da war, was den Anstoß gab, doch aufs Wasser zu gehen. Mutti wollte ursprünglich nicht aufs Wasser. Sie sagte immer: „Das Wasser hat keine Balken.“ Da die Großeltern Bindemann auch auf die Flucht wollten, war R. bei ihnen gut aufgehoben. Mutti war einverstanden. Leider kehrten sie um und fuhren mit R. auf ihren Hof in Wotzlaff zurück. Am 8. April brachte uns ein 16 Jahre alter Pole, der auch sehr viel Angst hatte, mit Pferd und Wagen nach Schiewenhorst. Unterwegs hörten wir die Kugeln pfeifen. Es war schon Abend, und man nahm auf dem Weichselschiff nur noch Mütter mit Kindern auf. War es Glück oder eine Fügung? Auf diesem Schiff fand Mutti ihre Eltern und ihre Schwester Hete, die schon drei Wochen in einem Waldbunker und Schuppen gelebt hatten. Von dem Weichselschiff wurden wir auf die offene See gefahren. So wie man Kaffeesäcke auf ein Schiff hievt, wurden wir auf das Walfangmutterschiff „Unitas“, 21846 BRT, gebracht. Einer Frau fiel der Koffer ins Wasser. So verlor sie das Letzte, was sie hatte. Auf dem Schiff befanden sich gut 3000 Flüchtlinge.

Am 11. April wurden wir in Sassnitz auf Rügen ausgeschifft, zur Kirche gebracht und uns selbst überlassen. Wir fanden in der Gartenlaube einer Villa Unterschlupf. Da es sehr kalt war, durften wir in der Villa unten auf einem kleinen Flur schlafen. Es gab kaum Verpflegung, und auch wir Kinder standen in der Schlange bei der Essensausgabe. Weil die Großmutter Grete sehr krank wurde, erhielt sie im Dachstübchen eine Bleibe. Auf Rügen befanden sich nicht nur sehr viele Flüchtlinge, sondern auch viele deutsche Soldaten. Am 30. April verließen wir alle zusammen mit der Großmutter, der es etwas besser ging, mit dem Reichsbahn-Fährschiff „Deutschland“ die Insel Rügen. Auf dem Fährschiff lagen wir auf den Schienen. Eine Verpflegung gab es nicht. Dort erkrankte ich an Mumps.

Mutti schaffte es, daß ich auf dem Fußboden vor den Kajüten der Matrosen liegen durfte. Am 3. Mai sind die Russen in Sassnitz eingerückt. Wir kamen nach Sonderburg in Dänemark. Obwohl keine Flüchtlinge mehr aufgenommen werden durften, erlaubte man uns, an Land gehen zu dürfen. Mutti und Großvater Otto bettelten nach Eßbarem.

Am 7. Mai mussten wir auf das 7838 BRT-große Schiff „Neidenfels“ gehen, welches uns über Flensburg nach Eckernförde brachte. Wir lagen dort bis zum 19. Mai im Hafen. Obwohl hier am 5. Mai der Krieg zu Ende war, brachte man uns mit Bussen nach Lindhöft, Krs. Eckernförde, wo wir Unterkunft in einer Scheune fanden. Wir waren 25 Personen, darunter 13 Kinder. Alle kochten auf einem Herd, auch Mutti, wenn sie etwas hatte. Sogar Blechteller hatte Mutti organisiert, ich weiß nicht, woher. Wenn eine Familie mit dem Essen fertig war, konnte die nächste essen. In Lindhöft schenkte mir ein Landwirt ein Ei. Ich hatte das Gefühl, es wäre Weihnachten. Mutti und Tante Hete halfen einem Bauern beim Melken und bei der Feldarbeit. Großvater Otto war schon auf dem Schiff krank geworden. Kranke sollten auf dem Schiff bleiben. Wir hatten uns doch gefunden! Sollten wir uns wieder verlieren? Er kam in Eckernförde ins Krankenhaus, wurde am 25. Mai nach Schleswig verlegt, wo er am 27. Mai an Hirnhautentzündung starb. Keiner von uns konnte hin, es fuhr kein Zug.

Knapp ein Vierteljahr später am 8. August wurden wir aus der Scheune in Lindhöft auf das Gut Noer umquartiert und fanden Unterkunft im Gutskindergarten. Die Gräfin zu Ranzau selbst nähte für uns die Gardinen. Am 29. September kehrte unser Vater Kurt mit Hilfe des Suchdienstes aus englischer Gefangenschaft zu uns zurück. Seine Einheit hatte sich noch unter schweren Verlusten bis Berlin durchgekämpft. Weil man ihm einen schwerverletzten jungen Soldaten anvertraute, konnte er Berlin verlassen und sich bis nach Schleswig-Holstein durchschlagen, wo er in englische Gefangenschaft geriet. Im September wurde er in Minden / Westfalen entlassen. Er erhielt am 1. November die Stelle eines Instmanns auf dem Gut. Dadurch bekamen wir eine Wohnung. Mutti und Tante Hete mußten auf dem Gut melken und erhielten als Wochenlohn 10 RM. Das Gut hatte 200 Kühe. Auch wir Kinder mußten helfen, z. B. Zuckerrüben verziehen. Die Reihen waren so lang, daß man das Ende nicht sehen konnte. Wir gingen oft weinend zur Feldarbeit.

Am 22. Juni 1946 kamen die Großeltern Bindemann mit meiner Schwester R. aus Polen zu uns. Sie hatten dort unter den Russen eine ganz schreckliche Zeit. So versteckten sie sich unter dem Fenster, wenn sie Schritte hörten, damit man sie nicht sehen konnte. Oder es wurde weggesehen, wenn eine Frau vergewaltigt wurde. So mussten sich Oma und Opa und R. nebeneinander stellen und die Arme hochhalten. Der Großvater sollte erschossen werden, und R. sollte in ein Heim. Sie hatten wohl einen Schutzengel, der das verhinderte.

Unserem Vater wurde ein Angebot als Verwalter auf einem Hof in der Lüneburger Heide gemacht. So kamen wir im Oktober 1949 auf den Hof Drumbergen der Familie Snyckers. Den Hof hat Vater später gepachtet.

Wir Kinder hatten später das Gefühl, unsere Eltern nicht nach den Geschehnissen zu Hause und nach der Flucht zu fragen, um die Wunden nicht wieder aufzureißen. Die waren sehr, sehr tief. Und so ist manch eine Frage unbeantwortet geblieben. Mutti ist am 24.11.1964 gestorben, der Vater am 24.6.1987. Beide wurden auf dem Reindorfer Friedhof beerdigt. Das Letzte, was ich dem Vater aus der Heimat als letzten Gruß mitgeben konnte, waren die drei Hände mit der Heimaterde.

R. und ich sind schon dreimal in unsere Heimat nach Danzig gefahren, auch meine Geschwister waren dort. Nach 40 Jahren stand ich an meinem Geburtstag am 13.7.1985 wieder in meinem Elternhaus in Zigankenberg. Von allen drei Höfen nahmen wir Heimaterde auch für den Vater und die Tanten, die noch lebten, mit. In Mönchengrebin kamen zwei junge Polinnen darauf zu und fragten: „Wer stiehlt uns unsere Erde?“ Der Taxifahrer klärte sie auf, worauf sie sich entschuldigten. Ja, wo ist unsere Heimat? Im Herzen ist Danzig doch immer noch unsere Heimat.

Mit der Nachbarsfamilie Konrad, die auf der Flucht war, aber bald nach Zigankenberg zurückging, stehen wir seit 1985 in engem Kontakt. Sie haben uns schon oft in Reindorf besucht, so auch das Kindermädchen Kaja, das uns über den Suchdienst gefunden hat. Der Nachbar Anton von Zigankenberg erzählte uns, die Kühe seien in den Ketten verbrannt. Vater sagte, er hätte die Ketten gelöst und die Türen geöffnet. Die Wahrheit mochte er uns nicht sagen, mußte aber mit der großen Belastung leben. Nicht nur der Mensch hatte Angst, auch die Tiere.

Bis 1.1.2000 haben R. und ich unser Gasthaus geführt. Jetzt haben wir mehr Zeit für die Verwandtschaft und Familie. Meine Geschwister und ich haben alle eine Ausbildung gemacht.

...

Nachtrag: Eine Begebenheit meines Bruders.

„Auf einem Fest erzählte Heinrich Tibke aus Wiegersen, Kreis Stade: „Ich bin Soldat in Danzig gewesen und stand mit einem Wagen voller Munition auf einem Hof. Eine Frau hat dafür gesorgt, daß der Wagen vom Hof mußte.“ Das hörte mein Bruder G. und ergänzte: „Am Eingang zum Hof war ein großes Holztor und dort, wo sich der Munitionswagen befand, stand ein großer Holunderbusch.“ Heinrich Tibke erwiderte: „Was verstehst du schon davon?“ Ja, so klein kann die Welt sein. Das war bei uns auf Zigankenberg, und die Frau war Mutti. Die Eltern hatten noch nach dem Krieg Kontakt mit Soldaten, die auf Zigankenberg gewesen waren.“

Lit.: E. B. liest den „Danziger Hauskalender“ seit dem Tod ihres Vaters regelmäßig. Er erscheint in der Danziger Verlagsgesellschaft Paul Rosenberg in Klausdorf bei Kiel.