Als ich Ende 2016 durch Irmchen, geborene Krause, ehemalige
Stutthöferin, von einer jüdischen Familie in Stutthof
erfuhr, wollte ich mehr über deren Geschichte und Verbleib
erfahren.
Ich berichte hier über die jüdische Familie Lieb
in Stutthof. Vielleicht erhält sie so ihr Gesicht in
der Dorfgemeinschaft zurück. Auch wenn sie darauf möglicherweise
keinen Wert gelegt hätte. Doch gehörte sie eine zeitlang zur
Dorfgemeinschaft und ist so Teil einer Geschichte, die nicht rosig
dargestellt werden kann.
Irmchens Erinnerungen an
die 1930-er Jahre: Es gab
eine jüdische Familie mit dem Namen Lieb, die ein
Bekleidungsgeschäft in der Schulstraße Ecke Poststraße führte.
Die Eheleute hatten eine kleine Tochter namens Antonia
(richtiger Name: Tania). Bei Lieb gingen
nur wenige Stutthöfer einkaufen. "Wer zum Juden kaufen ging, auf
den zeigten die Leute mit dem Finger".
Außerdem wurde Kunden angedroht, im "Stürmerkasten", direkt
gegenüber dem Lieb-Laden, veröffentlicht zu werden. Die
Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäftsleute sind ja
hinlänglich bekannt. Trotzdem gingen einige Stutthöfer am Abend
heimlich bei der Familie Lieb einkaufen. "Herr Lieb wurde mit Frau und Kind in einer
'Nacht und Nebelaktion' abgeholt".
Dies war damals Dorfgespräch. Also wussten es
wohl alle Bewohner. Von einer Parteinahme für Lieb ist Irmchen
nichts bekannt. Es soll lt. einer anderen Zeitzeugin noch einen
Kontakt mit
Frau Lieb in Danzig gegeben haben. Frau Lieb
soll gewarnt haben, mit ihr in Verbindung zu treten, es sei zu
gefährlich. Sie trug einen Judenstern. Das Geschäft der
Familie Lieb übernahm dann die Familie Antony, die direkt
nebenan schon ein Lebensmittel- und Milchgeschäft führte. Die
Textilien der Familie Lieb übernahm Heinrich Thiessen, der auch
ein Textilgeschäft in der Poststraße führte.
Eigene Recherchen sowie solche von Kollegen vom Forum.Danzig
führten zu einigen Dokumenten, aus denen sich bruchstückweise
das Leben der Familie Lib rekonstruieren lässt.
Zalman Lib
(Salomon Lieb) wird am 21.12.1891 geboren. Der schwer zu lesende
Geburtsort, eventuell auch nicht vom Standesbeamten richtig
geschrieben, ist nach dem Stand der Erkenntnis Dziewieniszki
(polnisch), Dieveniškės (litauisch), Divenishok, Jevenishok
(jiddisch) - siehe
Wikipedia
und
JewishGenKehilaLinks (englisch), u.a. mit Bildern der Stadt. Bei den
"Family Surnames" / Nachnamen in Divenishok gibt es keinen Lieb /
Lib; am nächsten kommt noch der Name Leyb.
Um 1928 eröffnet Salomon Lieb das o.a. Bekleidungsgeschäft in
Stutthof an der Ecke Schulstraße / Poststraße - im Adreßbuch
Danzig-Land von 1927/28 ist er weder in Stutthof noch andernorts
aufgeführt. Vermutlich hält er sich vor 1928 in der Region auf
jedoch ohne eigenen Hausstand.
Die Existenz des Geschäftes ist wie folgt belegt:
Günter Rehaag, „Ostseebad Stutthof“ Band 2, Haupteinwohnerverzeichnis Stutthof
Nummer 1445: Name: Antony, Walter, geboren 1908 Wohnort: Stutthof, Schulstraße 2 Beruf u. a.: Kaufmann, Milch Butter Lebensmittel, Schulstraße /
Ecke Poststraße Sonstiges: Besitz Fr. Löwner, Mieter Rudolf Rathke und Antony (Früh.
Kaufmann Liep) Info: Hermann Rohde
Deutsches Reichs-Adressbuch für Industrie, Gewerbe und Handel,
1934, Stutthof,
Manufakturwaren: Dau, G. – Gerber, Fritz – Glodde Alfr. - Lieb, Sal., -
Thiessen, Heinrich
1929 heiratet Salomon Lieb in Danzig:
Standesamt Danzig I, Nr. 528 vom
16.07.1929
Der Kaufmann Salmon Lib, mosaischer
Religion, geboren am 21.12.1891 zu Dziewieniszki, Kreis
Oszmiany, Litauen, wohnhaft in Stutthof, Danziger Niederung.
Die Eltern sind der Kaufmann David Lib und
seine bereits verstorbene Ehefrau Tony, geborene Katz,
angegeben, beide wohnhaft in Dziewieniszki.
Mit Sarra Wolowelski, Buchhalterin,
mosaischer Religion, geboren am 31.08.1898 / 10.09.1898
(julianischer / gregorianischer Kalender) zu Pinsk - Karolin,
Weißrussland, wohnhaft in Danzig.
Die Eltern sind der Kaufmann Josef
Wolowelski und dessen Ehefrau Lea, geborene Menzel, beide
wohnhaft in Pinsk -
Wikipedia
Quelle:
Landesarchiv Berlin - veröffentlicht von Ancestry
1932 wird - vermutlich in Stutthof - die Tochter Tania geboren.
Das weiße Geschäftsschild:
"Heinrich Thiessen"
Die spätestens 1933 beginnende Ausgrenzung, Bedrängung und
Verfolgung des Juden Salomon Lieb in Stutthof - siehe die obigen
Ausführungen von Irmchen - findet sich wie folgt bestätigt:
"Kurt Gutowski, Sohn des örtlichen
Schmieds und späterer Mundart- und Heimatdichter, hat in seinen
kleinen Lebenserinnerungen anekdotenhaft Zeugnis von der
Faschisierung und dem Anwachsen rassistischer Ideologien in
seinm Heimatdorf abgelegt (Gutowski, Kurt: Aus meiner Stutthöfer
Kinderzeit, S. 66). Gutowski macht den gelebten
Alltagsfaschismus an seinem Rektor Reinhold Zube fest, der
Schüler aufforderte, Lieferungen an das jüdische Kaufhaus Lieb
zu beschädigen und unbrauchbar zu machen. Zube zog bei den
angeordneten Kreistagsneuwahlen im November 1934 als
NSDAP-Scharfmacher in den Kreistag ein ..." (Zimmermann, Rüdiger: Friedrich Rohde (1895 - 1970), Danziger
Volkstagsabgeordneter, Fischer und Sozialist, Bonn 2020, S. 44
1936 verläßt die Familie Lieb Stutthof. Ob sie - wie Irmchen
meinte - in einer Nacht- und Nebelaktion abgeholt / verhaftet
wird oder von sich aus still und heimlich Stutthof Richtung
Danzig verläßt, bleibt unklar. Für Letzteres spricht die oben
erwähnte Begegnung mit der in Danzig in Freiheit lebenden Frau Lieb sowie
das folgende Ereignis:
„Zudem wurden dem Danziger Kaufmann Salomon Lieb, bei dem Beamte
des Steuerfahndungsamts in der Wohnung 30.000 Danziger Gulden in
Gold entdeckten, diese Summe trotz seines Rechts auf einen
freien Devisenverkehr zusammen mit seinem Sparkassenguthaben von
3.000 Gulden beschlagnahmt, obgleich Lieb überhaupt keinen
gewerblichen Betrieb führte. Die Finanzbehörde stellte trotzdem
Steuerschulden fest und zog die Goldmünzen als angebliche
Steuerschuld und Steuerstrafe ein." (Sopade 1938, S. 770f.) Banken, Ralf: "Hitlers Steuerstaat: Die Steuerpolitik im Dritten
Reich", 2018, S. 555, Fußnote 256
Dieses Geldvermögen könnte andeuten, dass Salomon Lieb sein
Geschäft und den Warenbestand noch erfolgreich an die Kaufleute
Walter Antony und und Heinrich Thiessen - siehe oben - veräußern
konnte.
Wo die Familie Lieb dann zwischen 1936 und 1942 lebt bleibt
unklar. In Danzig? In den Adreßbüchern 1937/38 und 1939 wird sie
nicht aufgeführt. Das belegt jedoch nicht, dass sie sich nicht
in der Stadt aufgehalten hat. Alternativ wäre vorstellbar, dass
sie in Salomon Liebs Geburtsort Dziewieniszki zurückkehrt.
Dokumentiert ist die Existenz von Salomon Lieb und seiner
Tochter Tania Lieb - nicht der Ehefrau / Mutter Sarra - erst
wieder im Jahr 1942 im Getto Woronowo.
Aus einer Ghetto-Liste -
https://www.avivshoa.co.il/pdf/Ghetto-List-1.8.2014.pdf
Nr. 5288 Woronowo (Voranava [Bel],
(Voronovo [Rus], Woronów [Pol], Voronova [Yid], Voranova,
Voronov, Voronove, Werenów, Woronowo)
bis 1941: Polen, Gebiet Nowogrodek; bis
1944/1945: Reichskommissariat Ostland (Weißruthenien); heute:
Belarus, Gebiet Grodno (Hrodna)
Eröffnung am 1.6.1941 Liquidierung
30.09.1943 Deportationen Lida
Bemerkung: am 11. Mai 1942 wurden 1291
Personen erschossen
Quelle: Handbuch der Haftstätten Belarus
(1941-1944), 2001; Encyclopedia of Jewish Life, 2001
Datum der Ergänzung: 1.8.2014
Die Karte zeigt, dass das Ghetto Woronowo nicht weit von Salomon Liebs Geburtsort entfernt liegt.
Nach einer Anfrage übersandte das
"Arolsen
Archives - International Center on Nazi Persecution"
eine sog. Korrespondenzakte über die Liebs:
Aus dieser Akte wird nicht erkennbar, wann und von wo die
Lieb-Familie in das Ghetto Woronowo gebracht wurde. Salomon Lieb
wird am 19.05.1942 im Ghetto verhaftet und bei einer "Aktion"
erschossen. Bei der 10-jährigen Tochter Tania wird das Datum der
Verhaftung mit Anfang Juni 1942 angegeben; auch sie wird bei
einer "Aktion" erschossen.
Über den Verbleib der Ehefrau / Mutter Sara findet sich nichts,
auch nicht auf der Liste der Überlebenden des Ghetto Woronowo.
Nicht auszuschließen ist, dass zwischen 1936 und 1942 verstorben
ist. In der englischsprachigen Veröffentlichung
Woronow, Voronova
(Voranava, Belarus) 54°09' / 25°20' Written by Moshe Berkowitz, beginning 1943 Unpublished
wird im Chapter XIII beschrieben, wie die jüdischen Bewohner von
Diveneshok und benachbarter Orte nach Woronowa gebracht werden.
Vorher versucht eine Delegation aus den Orten mit den Deutschen
zu verhandeln. "The delegation was as
follows: LIEB; Hirsh SCHMID; YUTAN; and KOTLIAR from Diveneshok
..." - leider fehlt bei LIEB der Vorname, so dass nicht
klar ist, ob es sich um Salomon Lieb handelt.
Chapter XV - The massacre in Woronow. Dieses fand statt am
11.05.1942 - siehe das Todesdatum von Salomon Lieb.
Ich möchte mich bei allen helfenden Kräften aus dem Danzig Forum
bedanken und beim Arolsen Archiv für die Bereitstellung der
Akte.
Mein Anspruch war nicht ein Buch zu schreiben, sondern, wie
eingangs erwähnt, der Familie Lieb einen Platz im Bewusstsein zu
geben. Deshalb bitte ich um Verständnis, dass ich mich relativ
kurzgehalten habe.
Copy of 6.3.3.3 / 82889670 letzte Ziffer fortlaufend bis 5 In conformity with IST Digital Archive, Arolsen Archives Mit freundlicher Erlaubnis der Veröffentlichung durch o.g.
Archiv.
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