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Die Vorgeschichte:
Heinz Stazki, in Niederschlesien lebend,
stellt 2015 im Forum.Danzig.de einen Beitrag ein unter dem Stichwort
"Zufallsfund Wüst".
http://forum.danzig.de/showthread.php?12921-Zufallsfund-W%DCST&highlight=janeiro
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Heinz schreibt u.a.:
Zufälligerweise war
ich dann mal im polnischen „e-bay“ (= “allegro.pl“) und ersteigerte dort
ein Tagebuch, welches eine Reise nach Brasilien im Jahre 1936 von
Hamburg aus beschrieb. Ich versuchte mich dort einzulesen, doch die
Schrift bereitete mir damals noch einige Schwierigkeiten und somit
verschob ich die Auswertung dieses Tagebuches auf später.
Später dann ... nach 5-6 Jahren (ab und zu schaute ich mir schon die
tollen Postkarten, die diesem Buch hinzugefügt waren, an und versuchte
mich an der Schrift), also 2015, war ich durch etliche Besuche im Archiv
des Hunsrücker Standesamtes gewappnet und „entzifferte“ und
transkribierte endlich das Tagebuch.
Dieses liegt mir nun in lesbarer Druckschrift vor und ich beabsichtige,
das Original den eventuell vorhandenen und interessierten Verwandten,
sei´s in BRAS oder D zu übergeben.
Was nun dieses Tagebuch an Informationen über die Familie preisgab, war
ein Grund, es hier vorzustellen, denn: ES HAT ZOPPOT-BEZUG!
Vielleicht finde ich auf diesem Wege nähere Einzelheiten und
Informationen über die Familie WÜST, welche in Zoppot einmal gelebt
haben muß ...
Durch Zufall stieß
ich bei weiteren Recherchen auf einen Artikel in der „Trojmiasto.pl“
Historia v. 28.01.2013 von Paweł Pizuński, welcher über einen Artikel
aus den „Danziger Neuesten Nachrichten“ vom Januar 1932 schrieb. In
diesem Artikel war die schlechte Kopie eines Bildes aus jener Zeit zu
sehen:
„Die Fotografie zeigt ein junges Paar mit Hochzeitsgästen. Rudolf Cramer
von CLAUSBRUCH mit Ehefrau kann man sehen in der 2. Reihe, 1. v.
rechts.“
Die Übersetzung des Artikels zu diesem Bild:
„Obwohl Frl. Ilse WÜST, Tochter der Kapitänswitwe WÜST aus Zoppot
Hermann BORMANN im November 1931 in Rio de Janeiro geheiratet hat, hat
die Danziger Presse dieses Foto erst im Januar des nächsten Jahres
veröffentlicht.
Diese Publikation erfolgte nicht wegen der Schönheit der jungen Braut
oder des gutaussehenden Bräutigams. Grund war die Anwesenheit des
Piloten Rudolf Cramer und seiner Ehefrau Dorit. Beide waren beliebte
Gäste bei den verschiedensten festlichen Anlässen. Er, weil er schon in
Rio als Flugkapitän der Do-X, mit der er Reisen über den Atlantik
durchführte, lebte, sie, noch als Fräulein NITIKOWSKY, war 1930 im
„Hotel Kaiserhof“ zur Miss Deutschland gekrönt worden.
Der
Name Wüst sagt mir etwas. Drei Wochen zuvor bin ich mit Heidrun G. in
Kontakt gekommen, eine Wüst-Nachfahrin, die mehrere Wüst-Lebens-berichte
geschickt hatte.
Die Community macht sich auf die Suche.
Verwirrung löst die Bezeichnung
"Kapitänswitwe" aus, denn ein Kapitän Wüst ist bis dato nicht bekannt. -
Später stellt sich heraus, dass es sich hier um einen simplen
Übersetzungsfehler handelt. Ein polnischer "kapitanie" kann nicht nur
ein deutscher Kapitän sein sondern auch ein Hauptmann.
Zum anderen, wer ist Ilse Wüst,
ausgewandert nach Brasilien?
Langsam wird das Bild klarer. Bei Wolfgang
Wannow: Geschichte der Familie Wannow (Wannovius), 1996 -
siehe hier - heißt es auf Seite 229: "2. Ehe
der Luise Emilie Wannow geb. Bulcke mit Carl Wüst ... [sie] heiratete am
04.01.1875 in Güttland ihren Vetter, den Landwirt Carl Wüst ... Carl war
der älteste Sohn des Ortspfarrers Carl Theodor Gotthilf Wüst zu Güttland
... [siehe
dessen Lebensbericht] ... Luise Wüst hatte in
ihrer Ehe zwei Söhne, Max und Walter.
Max Wüst, der mit Edith Schramm verheiratet war, ist als Hauptmann 1914
in der Schlacht bei Tannenberg / Ostpr. gefallen ...
In der Ehe wurden vier Kinder geboren: Jochen, Egon, Lothar und Ilse
Wüst [!!!].
Nachdem Edith Wüst geb. Schramm 1912 verstarb
[das ist nicht ganz korrekt, sie verstarb 1907],
heiratete Max Wüst Liesbeth Fuchs.
Die drei ersten Söhne aus der ersten Ehe kamen in ein Kadettencorps nach
Lichterfeld / Berlin und die Tochter Ilse wurde von seinem Bruder in
Güttland zusammen mit ihrer Cousine Charlotte Wüst großgezogen.
Ilse ging später nach Brasilien und heiratete dort den Direktor der
Dresdner Bank Bouman [Bormann].
Diese Aussagen lassen sich fast alle
belegen:
-
Carl Theodor Wüst, * Pröbbernau
19.10.1836, † Güttland 18.06.1894, Hfb in Güttland
∞ 01.1875 mit Luise Emilie Bulcke, * Gerdin 14.06.1840, † Danzig
12.11.1914
2 Kinder:
1) Karl Max Wüst, * Güttland 04.11.1875, † Tannenberg 26.08.1914,
1899 in Bromberg Königl. Leutnant des Pommerschen Füsilier Regiment No.
34, 1912 Hauptmann & Kompaniechef
2) Walter Wüst, * Güttland 16.04.1879, † Eppstein, Taunus,
08.07.1952
-
Karl Max Wüst ∞ Bromberg 30.09.1899 (Rg
Militärgemeinde 36/1899) mit Edith Sophie Auguste Gertrud Schramm, *
Bromberg 27.04.1877,
† Bromberg 11.02.1907
Eltern: Richard Schramm, Fabrikbesitzer in Bromberg, & Gertrud Welle
4 Kinder:
1) Richard Carl Joachim Wüst, * Bromberg 12.10.1900
2) Hermann Walter Egon Wüst, * Bromberg 26.07.1902
3) Günther Max Lothar Wüst, * Bromberg 02.11.1903
4) Ilse Louise Gertrud Wüst, * Bromberg 09.10.1905
-
Karl Max Wüst ∞ StA Berlin - Schöneberg
08.06.1912 mit Elisabeth Fuchs,
* Allenstein, Ostpr., 01.04.1881,
Eltern: Karl Fuchs, 1912 königl. Baurath in Berlin, & Emilie
Hoffmann
Wohnort des Ehepaares Wüst - Fuchs ist
Bromberg. Der Name Wüst findet sich jedoch weder in den Bromberger
Adressbüchern vor noch während des Wk I; vermutlich wohnen sie in einer
Dienstwohnung auf dem Kasernengelände, die Elisabeth Wüst nach dem
Tod ihres Ehemannes verlässt / verlassen muss. Lt. Adressbuch Zoppot
1917/18 wohnt Wüst, Elisabeth, verw. Hauptmann, dort in der Schulstr. 44;
unter dieser Adresse wird sie dann im Adressbuch Danzig, das Zoppot
einschließt, von 1926 bis 1933 geführt. 1936 scheint sie bei ihrer
Mutter in Berlin zu leben.
Ob die o.a. vier Kinder aus Max Wüsts
erster Ehe 1912 zu ihrem Vater und ihrer Stiefmutter Elisabeth Fuchs
nach Bromberg kommen oder eventuell nur Ilse Louise Gertrud Wüst ist
unklar. Auf jeden Fall sind sie in Kontakt miteinander und haben
offensichtlich ein gutes Verhältnis.
Am 17.10.1929 heiratet der Stiefsohn
Hermann Walter Egon Wüst im Standesamt Danzig - Brentau; Trauzeugin ist
seine Stiefmutter Elisabeth Wüst.
14 Tage später geht Ilse Louise Gertrud
Wüst in Hamburg an Bord eines Schiffes der Hamburg - Amerika - Linie,
das sie nach Rio de Janeiro, Brasilien bringt. Auf der Passagierliste
ist als bisheriger Wohnort Zoppot angegeben. Da sie dort nicht in den
Adressbüchern erscheint wohnt sie entweder zur Untermiete oder zusammen
mit ihrer Stiefmutter.
Wikipedia:
Mehr über das Kombischiff "Carl Legien"
Es bleibt die Frage, was will eine
24-Jährige "ohne Beruf" 1929 kurz nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise
in Rio de Janeiro?
Eine Antwort wäre: Ilse lernt in Zoppot -
oder andernorts - Hermann Bormann während dessen Deutschlandaufenthaltes
kennen ... der o.a. Zeitungsartikel von 1932 besagt jedoch, dass das
Paar erst im November 1931 in Rio heiratet, rund zwei Jahre nach ihrer
Ankunft. Andererseits sagt Elisabeth Wüst, dass Ilse 1929 mit dem
Brautkleid ausreiste ... Und aus ihrem Reisebericht geht
hervor, dass Ilse an verschiedenen Orten in Rio wohnte und arbeitete. So
ganz passt das irgendwie wohl nicht zusammen.
Sei's drum. Auf jeden Fall besucht
Elisabeth Wüst, geb. Fuchs, die Stieftochter Ilse Bormann, geb. Wüst,
1936 in Rio de Janeiro und führt über diese Zeit ein Tagebuch.
Ausgestattet ist sie mit einem schmalen
Geldbeutel - Holzklasse, die 50 RM für die bessere Speiseklasse zwecks
Nähe zu "angenehmeren" Mitreisenden zwackt sie der Geldbörse mit
Bedenken ab, auf der Rückfahrt spart sie sich diesen Luxus. Versehen ist
sie als Bürgerin der deutschen Mittelklasse mit kleineren und größeren
Portionen an kultureller Arroganz, auf die "kleinen Leute"
herabschauend, Antisemitismus, Stolz auf die Nazis, Rassismus etc. etc.
- sie wird sich darin kaum von vielen Deutschen während dieser Zeit
unterschieden haben.
Zum Schluß erstellt Elisabeth Wüst eine
Erfolgsbilanz: Wie oft ist sie zum Essen und Festlichkeiten eingeladen
worden, und wie oft haben ihre Stiefkinder Ilse und Hermann ihr zu Ehren
Gäste eingeladen. Diese Bilanz verdeutlicht, dass Elisabeth sich
ausschließlich in der deutschen Community in Rio bewegt.
Aus heutiger Sicht: Über die Einstellungen
und Verhaltensweisen in Deutschland während der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts zu hören ist eine Sache; im Original dies zu lesen ist eine
andere Sache ... und geht unter die Haut.
60 Jahre später, in den 1990-er Jahren,
lebe und arbeite ich lange in Brasilien ... kenne manches, von dem
Elisabeth berichtet ... und bin in einem Siedlungsgebiet
deutschstämmiger Auswanderer mit der immer noch existierenden
kulturellen Arroganz gegenüber den caboclos (Schimpfwort) konfrontiert
...
Zum Download:
Wüst Elisabeth - Reise nach Rio - 1936.pdf - transkribiert
Wüst Elisabeth - Reise nach Rio - 1936.pdf - handschriftlich
Dank an Heinz, dafür dass er
dieses spannende Reisetagebuch aufgetrieb, sich im Forum.Danzig.de damit
meldete, das Tagebuch transkribierte, und das Original an Heidrun G.
schickte, womit es wieder in den Kreis der Familie Wüst zurückkehrte!
Und, Heinz, sorry, dass es
sooo lange dauerte, bis ich mit der Veröffentlichung in die Puschen kam
...
RMG |
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